3.
Auswirkungen des IS auf den Nahen Osten und Afrika
Die bisherigen
Blogteile haben sich mit den Gründen für die Entstehung des IS sowie seiner
Struktur befasst. Ziel dieses längeren dritten Teils der Reihe ist es kurz
herauszuarbeiten, inwieweit der IS neben Syrien und Irak auch weitere Staaten
im Nahen Osten aber auch in Afrika gefährdet. Konkret befasst sich der erste
Abschnitt kurz mit der aktuellen Lage in Syrien und Irak als „Quelle“ des IS,
im Anschluss folgt der Blick auf die direkten Nachbarstaaten, Jordanien und
Libanon (3.2). Wie groß die Wirkung des IS auch auf andere ehemaligen Staaten
des sog. Arabischen Frühling ist und warum, zeigen die Abschnitte 3 bis fünf zu
Ägypten, Jemen und Libyen, auf die ein Exkurs zur Situation auf den afrikanischen
Kontinent in Gänze sowie ein abschließendes Fazit folgt.
3.1 Die
Lage in Syrien und Irak - Zahlen und Fakten
Ziel dieses
Abschnittes ist es, insbesondere auf den humanitären Aspekt der Auswirkungen
des IS in Syrien und Irak einzugehen, die aktuelle Entwicklung im Kampf gegen
den IS folgt an anderer Stelle. Des Weiteren wird kurz zusammengefasst, wie das
Leben im IS aussieht und schließlich auf das angespannte politische Klima im
Irak hingewiesen.
Wie die Medien,
renommierte Nachrichtensender wie das ARD, sowie Internationale Einrichtungen
und Organisationen, Amnesty International, UNHCR sowie die syrische
Beobachtungsstelle für Menschenrechte, immer wieder berichten, ist die Lage in
Irak und vor allem in Syrien derzeit katastrophal. Zwar erklärte am 30.03.16
ein UN-Nothelfer Stephen O’Brien vor dem UN-Sicherheitsrat: „Deutlich weniger
Zivilisten werden seit Beginn der Waffenruhe vor einem Monat getötet oder
verwundet - wenigstens in manchen Landesteilen hat das den Menschen eine
Atempause gegeben."[1] – allein die
Gesamtzahlen liefern demgegenüber ein erschreckendes Bild. Trotz der nun
angelaufenen UN gesteuerten Lieferungen von Hilfskonvois sind Millionen von
Menschen ohne Wasser, Strom und die nötigsten Nahrungsmittel. Bilder wie aus
der nun wieder erreichbaren Stadt Madaya belegen, dass Kinder die
Hauptleidtragenden des Konflikts sind.[2]
Doch nicht nur die vor Ort verbliebenen Syrer und Iraker sind unerträglichen
Lebensbedingungen ausgesetzt, auch hunderttausende Flüchtende oder bereits in
Flüchtlingslagern angekommene leiden: Die Nachbarstaaten Syriens, Jordanien und
Libanon, sind mit den von ihnen aufgenommen Flüchtlingen – deutlich höheren
Zahlen als in Europa – überfordert und dadurch innenpolitisch bedroht (s.u.),
die Türkei bildet das Haupttransitland zur EU, welche, wie das immer wieder
verzweifelte Ringen um eine angemessene Reaktion auf den Flüchtlingsstrom
zeigt, vor einer Zerreißprobe steht.
Doch nicht nur
Hunger sowie mangelnder Zugang zu Strom und Wasser belasten das Leben der
Menschen in Syrien: Innerhalb des IS Territoriums wird die Bevölkerung darüber
hinaus terrorisiert und abgeschreckt. So gibt es zahlreiche Belege für
öffentliche Exekutionen, Amputationen, Auspeitschungen und die Zurschaustellung
von verstümmelten Leichen auf den Straßen, Maßnahmen des IS, um die Menschen
unter Kontrolle zu halten. Ein weiterer Punkt ist die Zwangsverheiratung von
Mädchen ab 13Jahren mit IS-Kämpfern – Umstände, die an Afghanistan zur Zeit der
Taliban erinnern. Warum die Menschen dennoch bereit sind unter dem IS zu leben?
Vielen fehlt das Geld zur Flucht, andere schrecken die Bilder aus den
Flüchtlingslagern ab, einige wollen die Familie oder die Heimat nicht verlassen
und schließlich gibt es immerhin nicht zu vergessen zumindest gewisse
staatsähnliche Strukturen im IS-Territorium (siehe Blog Teil 2). Außerdem gilt
auch im mit IS regierten Nachbarland Irak sieht die politische Lage derzeit
auch ohne Bürgerkrieg angespannt aus.
Steht der Irak
vor der Implosion? Auf der einen Seite scheint es deutliche Erfolge gegen den
IS im irakischen Norden zu geben, allein wie z.B. die Anschlagsserie mit
Selbstmordattentätern vom 04.04.16 belegt,[3]
wehrt sich der IS hartnäckig gegen seine Vernichtung. Hinzu kommt, dass das
innenpolitische Klima, die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der eigenen
Regierung, stark angeheizt ist. So berichtete das ZDF am Freitag, 11.03.16, von
einem Ultimatum des schiitischen Klerus unter Führung von Muqtada as-Sadr an
die Regierung Abadi. Konkret gab es die Forderung nach Einleitung von Reformen
innerhalb von vierzehn Tagen sowie der Absetzung von korrupten Ministern, sonst
werde die Gelehrtenschaft die Regierung übernehmen.[4]
Am Samstag, 30.04.16, stürmte nun das Volk unter Leitung von Sadr, das im
abgeriegelten Sicherheitstrakt von Bagdad gelegene Parlament. Auch wenn sich
die Masse nach Aufforderung ihres Anführers bereits am folgenden Tag wieder
zurückzog: Die Situation erinnert einerseits an den Beginn des sog. Arabischen
andererseits an die Machtübernahme von
Khomeini 1979 in Iran. Was wären mögliche Folgen, sollte sich in Zukunft der
schiitische Klerus doch noch durchsetzen? Dies würde zur Etablierung des Irak
als einem schiitisch dominierten Staat führen und damit den bereits vorhandenen
Konflikt in der islamischen Welt zwischen Saudi Arabien als Stellvertreter der
sunnitischen Staaten und Iran für die Schiiten verstärken. Eine bereits
offensichtliche Folge der schiitischen Demonstrationen angeheizt durch die
Offensive gegen den IS ist außerdem die jüngste Anschlagsserie der ersten April
Woche im Irak, welche sich fast ausschließlich gegen schiitische Ziele
richtete.
Doch nicht nur
Syrien und der Irak leiden unter dem IS, auch der übrige Nahe Osten und Afrika
sind durch mögliche Schläferzellen und Selbstmordattentäter bedroht, vor allem
wenn Jugendliche abwandern, sich dem IS anschließen und später radikalisiert in
ihre Heimat zurückkehren. Hinzu kommt in den beiden direkten Nachbarländern
Jordanien und Libanon die Flüchtlingssituation. Inwieweit diese die politische
Stabilität der beiden Staaten beeinträchtigt ist Thema des folgenden
Abschnittes
3.2
Jordanien und Libanon
Eine gemeinsame
Betrachtung von Jordanien und Libanon?
Tatsächlich
haben diese beiden Länder derzeit Gemeinsamkeiten, die ihre Zukunft massiv
beeinträchtigen können: 1) Beide Staaten sind Anrainerstaaten von Syrien,
vielmehr vom IS. 2) Sowohl Jordanien auf Seiten der Arabischen Allianz als auch
Libanon vertreten durch die Hisbollah sind auf Seiten Assads im syrischen
Bürgerkrieg/ Kampf gegen den IS beteiligt. 3) Beherbergen beide gemessen an der
eigenen Bevölkerung eine sehr hohe Zahl an Flüchtlingen, im Libanon derzeit ein
Viertel der eigentlichen Einwohner (1,1, Millionen Flüchtlinge vs. 4,4
Millionen Libanesen)[5] - wohl das
bedrohlichste für die innere Stabilität beider Staaten – beide beherbergen
Wieso bedroht diese Gesamtsituation die Stabilität beider Staaten?
Beide Länder Libanon wie auch
Jordanien haben kein homogenes Staatsvolk. Im Libanon gibt es insgesamt 18
verschiedene Religionsgemeinschaften, wobei sunnitische sowie schiitische
Muslime und maronitische Christen, die größten und mit Blick auf die Politik
wichtigsten Gruppen darstellen und laut Verfassung von 1926 die Inhaber der
wichtigsten Staatsämter stellen. In Jordanien ist zwischen den einheimischen
oft noch in ihrem alten beduinischen Stammesdenken verwurzelten Jordanien auf
dem Land, den königstreuen z.T. nicht ursächlichen Jordaniern und einem großen
Anteil an palästinensischen Flüchtlingen, der ca. 50% der Bevölkerung ausmacht[6],
zu unterscheiden. Welche Faktoren führen noch dazu, dass beide Staaten als
anfällig für eine Implosion angesehen werden können?
Schauen wir
zunächst einmal auf Jordanien. Jordanien ist eines der ärmsten arabischen
Länder und ohne Erdölvorkommen sowie Wassermangel schon lange auf Finanzhilfen
von außen angewiesen; hinzukommen ein Rückgang des Tourismus um 60% plus eine
Arbeitslosenquote von 30%. Darüber hinaus ist bekannt, dass die ärmsten Gebiete
des Landes schon seit Jahren als „Lieferanten“ von Kämpfern für die Vorläufer
Organisationen des IS fungierten, die in ihrem – im Falle von Palästinensern
angenommenen – Heimatland keine persönliche Zukunft sahen. Auch darf nicht
vergessen werden, dass es auch in Jordanien in Folge des sog. Arabischen
Frühlings Unruhen und Proteste gegeben hat. So gingen z.B. Anfang 2011 jeden
Freitag Proteste nach Reformen des Systems insbesondere nach mehr Bürgerrechten
und einem Ende der Korruption, die friedlich verliefen bis sie wegen Kritik an
der Monarchie gewaltsam aufgelöst wurden. Kernreaktion des Monarchen war die
Auflösung des Parlaments. Was sich die Jordanier von ihrem Herrscher
wünsch(t)en, zeigt ein Satz aus einem „Brandbrief“, den Vertreter der Stämme im
Februar 2011 verfassten:
„Noch vor Stabilität und
ausreichenden Lebensmitteln will das jordanische Volk Freiheit, Würde,
Demokratie und Gerechtigkeit, Menschenrechte und ein Ende der Korruption.“[7]
Dies also sind Forderungen der beiden Hauptträger der damaligen Proteste, dem
jordanischen Zweig der Muslimbruderschaft der Aktionsfront und der von jugendlichen
getragenen Gruppe des 24. März. Wie sahen die Reaktionen des Regimes aus? Mit
der erstmaligen Ernennung von Experten, so drei Wirtschaftswissenschaftlern als
Kabinettsminister, sollten Wirtschaftsreformen angestrebt werden. Allein das
Volk blieb misstrauisch und die Regierung selbst sah sich nicht als
parlamentarisch an. Dies entspricht auch drei Schriften des Herrschers mit
Reformvorschlägen, welche das Ziel den „Übergang zu einer echten
parlamentarischen Regierung“ zu ermöglichen beinhalten. Es lässt sich insoweit
festhalten, dass der Herrscher bereits Anfang 2011 – ohne Tausende syr.- irak.
Flüchtlinge und den IS als Nachbarn unter starkem Druck zu Veränderungen stand.
Des Weiteren fand seine Entscheidung, sich der Allianz gegen den IS anzuschließen,
zunächst kaum Rückhalt in der Bevölkerung – dies änderte sich erst, als der IS
einen abgestürzten jordanischen Piloten durch Verbrennung vor offener Kamera
hinrichtete. Auch wenn die Jordaniern nun eher hinter dem Kampf gegen den IS
stehen, fehlt es nach wie vor an der Durchführung der eingeforderten Reformen
und es ist leicht nachvollziehbar, warum das Land durch die neuen
Flüchtlingsströme überfordert ist.
Wie sieht es nun im
Libanon aus? In wirtschaftlicher Hinsicht lässt sich klar feststellen, dass der
Libanon deutlich besser dasteht als Jordanien, doch das Land blickt u.a.
aufgrund der konfessionellen Situation bereits auf mehrere Bürgerkriege zurück.
Als besonders problematisch für den Libanon ist die Rolle der Hisbollah als
Vertreter der Schiiten zu betrachten, die z.B. neben der Staatsarmee selbst die
größte bewaffnete Gruppe im Land stellt. Hier ergibt sich nun folgende
Schwierigkeit: Libanon gehört zur Arabischen Liga, welche weitgehend aus
sunnitisch regierten Staaten besteht und sich im syrischen Bürgerkrieg vom
Assad-Regime (als Alawit der Schia zugehörig) zugunsten der Opposition
abgewendet hat. Die Hisbollah hingegen unterstützt als schiitische Gruppe das
Assad-Regime im Kampf gegen den IS – und wurde nun am 11.03.16 von der
Arabischen Liga unter Enthaltung von Libanon und Irak zur Terrororganisation
erklärt[8].
Neben der Belastung des Systems durch Flüchtlinge, welche das wacklige
konfessionelle Gleichgewicht bedrohen, könnte diese Entscheidung der Arabischen
Liga das Land nun zusätzlich von den sunnitischen Staaten entfremden, denn im
Libanon selbst ist die Hisbollah als ein wichtiger Faktor für die
Funktionsfähigkeit des Staates zu werten – dessen Stabilität schon seit 2013
u.a. durch die Nichtbesetzung des Staatspräsidentenamtes gefährdet ist.[9]
Es bleibt abzuwarten, ob aktuelle Finanzhilfen, so von Frankreich, ausreichen,
um den Balanceakt von Libanon und Jordanien langfristig zu unterstützen oder ob
diese beiden Staaten in Kürze sekundäre „Opfer“ des syrischen Bürgerkrieges und
des IS werden. Ganz ähnlich wie Ägypten, welches mittlerweile bereits zwei
Revolutionen seit Anfang 2011 hinter sich gebracht hat.
3.3
Ägypten
Im Jahr 2011 überraschte das
ägyptische Volk die Welt als es im Einklang mit dem Militär den langjährigen
Präsidenten Mubarak zu Fall brachte; es folgte ein zweiter Umsturz – erinnernd
an einen Militärputsch – 2013 gegen den demokratisch gewählten Präsidenten
Mursi[10].
Seitdem regierte der ehemalige General as-Sisi als neugewählter Präsident das
Land mit eiserner Faust, doch die Lage ist sowohl innenpolitisch als auch durch
die außenpolitische Situation mit dem IS angespannt.
Zunächst ein
kurzer Blick auf die Innenpolitik. Wie in den meisten Staaten des sog.
Arabischen Frühlings ist die Wirtschaftslage Ägyptens auch fünf Jahre später
angespannt: es gibt eine große Zahl arbeitsloser Jugendlicher; Gelder, welche
von den Golfstaaten zur Entwicklung gezahlt werden, sind bisher nicht
erfolgreich eingesetzt worden. Vergleicht man die Regierung Sisi mit dem Regime
Mubarak, ist darüber hinaus festzustellen, dass Sisi einen deutlich
repressiveren Kurs fährt – so beläuft sich die Zahl der politischen Häftlinge
derzeit auf ca. 40.000, viele davon Oppositionelle aus den Jahren 2011-2013,
nicht zu reden vom Verbot der Muslimbruderschaft.[11]
Zu dieser innenpolitischen Entwicklung im Kernland gesellt sich die
Auswirkungen des IS, die sich zum einen in wiederholten Anschlägen im ganzen
Land auch innerhalb von Kairo äußern, ganz besonders aber den Sinai betreffen.
Insbesondere für den Nordsinai gilt, dass die Armee und Präsident Sisi hier
keinerlei Einfluss mehr haben und dieses Territorium sich de facto in der Hand
des IS befindet, der sich mit der dort ansässigen lokalen Gruppe der Ansar Bayt al Maqdis verbündet hat. Ein
Bündnis, welches möglicherweise auch für den Abschuss eines russischen
Passagierflugzeuges im vergangenen Jahr verantwortlich zeichnet und für eine
Verschlechterung der politischen Beziehungen zwischen Ägypten und Russland
sorgte.
Repressionen
gegen das Volk einerseits, Machtlosigkeit angesichts des IS im eigenen Land
andererseits: Das Vertrauen der Menschen in Präsident Sisi schwindet. Erneut
gehen - wie die Berichterstattung von al-jazeera zeigt – die Menschen in
Ägypten auf die Straßen[12].
Sie haben 2011 und 2013 gelernt, dass sie das Recht haben, ihre Meinung zu
sagen und das tun sie. Wird es infolge von IS und repressivem Regime zu einem
erneuten Umsturz am Nil kommen? Dies bleibt abzuwarten, sicher ist jedoch, dass
das ägyptische Volk seine Meinung kundtun wird und seinen 2011 neu eingeschlagenen
Weg zu mehr Mitspracherecht weitergeht.
Bisher hat der
dritte Blogteil mit Ausnahme von Syrien mit weitgehend intakten Staaten
befasst, deren Stabilität vom IS bedroht ist. Welche Rolle spielt der IS nun im
Jemen und in Libyen, zwei Staaten, welche 2011 zunächst auch erfolgreiche
Revolutionen hinter sich gebracht haben, seitdem aber in Bürgerkriegen
versinken? Werfen wir zunächst einen Blick auf den Jemen, bevor Libyen
thematisiert und in einem kleinen Exkurs auf die Gesamtsituation in Afrika
eingegangen wird.
3.4 Jemen
Was hat der
Jemen, am unteren Zipfel der arabischen Halbinsel gelegen, mit dem IS zu tun?
Tatsächlich ist der IS selbst hier allenfalls marginal präsent als Drahtzieher
von Selbstmordattentaten wie z.B. am 20.03.2015 auf eine Moschee in der
jemenitischen Hauptstadt Sanaa mit über 130 Toten. Aber allgemein gilt, dass
schon seit Jahren Trainingscamps für terroristische Gruppen, so al-Qaida, im
Land etabliert sind. Entscheidend für einen Blick auf die Situation im Jemen im
Kontext IS ist jedoch eher die dortige politisch-religiöse Situation mit ihren
überregionalen Auswirkungen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis
Saudi-Arabien versus Iran, also den Repräsentanten der beiden Ausprägungen des
Islam, Sunna und Schia. Doch zunächst gilt es kurz auf die jemenitische
Entwicklung seit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Saleh im Zuge des sog.
Arabischen Frühling 2011 einzugehen.
Insgesamt lässt sich festhalten,
dass es trotz relativ zügiger Wahl des neuen Präsidenten Rabbo Mansur Hadi seit
2011 keine klare Staatsstruktur im Jemen gibt.[13]
Hierfür sind insbesondere der historisch bedingte Nord-Süd-Gegensatz bzw. der
Widerspruch zwischen Stadtkultur und Stammeskultur einerseits sowie die
schlechte Wirtschaftslage mit hoher Arbeitslosigkeit andererseits zentrale
Gründe. Hinzu kommt, dass sich die Bevölkerung religiös in Angehörige der Sunna
– so z.B. der Präsident und der Süden – und in Angehörige der schiitischen
Untergruppe der Zaiditen (fünfer Schiiten) repräsentiert durch die Huthis
unterscheidet. Letztere, von der gewählten Regierung Hadi als Rebellen
bezeichnete, haben es bis 2015 geschafft weite Teile des Landes v.a. den Norden
und Westen sowie die Hauptstadt Sanaa zu besetzen und damit den Präsidenten
Hadi zur Flucht ins Nachbarland Saudi-Arabien gezwungen. Von dort aus werden
nun im Auftrag von Hadi sowie inoffiziell im Kampf gegen das entstehen einer
schiitischen Achse mit Billigung der Arabischen Liga Angriffe gegen die Huthis
erfolgen und Truppen entsandt.[14] Ein
Vorgehen, welches das Land laut UN-Angaben rund ein Zehntel seiner Bevölkerung
(2,5Millionen) an Vertriebenen gekostet hat plus weitere 27.000 Verletzte und
über 5.800 Tote, wobei Kinder die Hauptleidtragenden sind. Welche Reaktionen
bzw. Hilfe gibt es angesichts dieser Situation seitens der übrigen insbesondere
der westlichen Welt?
Hier ist zunächst festzuhalten,
dass es lange Zeit eine schweigende Akzeptanz des saudischen Vorgehens durch
den Westen gab, schlicht weil man auf die Unterstützung Saudi-Arabiens im Kampf
gegen den IS angewiesen ist und auch den Einfluss des Landes in der Arabischen
Liga. So gab es tatsächlich erst Ende 2015 einen ersten Anlauf die
Kriegsparteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Ergebnis war ein ab dem
15.12.2015 gültiger Waffenstillstand, der allerdings von Beginn an brüchig war
und schließlich von den Huthis bereits am 2.1.2016 für beendet erklärt wurde.
Neue Gespräche unter Führung des UN-Sondergesandten Ismail Ould Cheikh Ahmed am
23.03.2016 sehen nun einen erneuten Waffenstillstand ab dem 10.04.2016, sowie
darauf aufbauende Verhandlungen in Kuwait ab dem 18.04.2016 vor. Ob es gelingt
diese „letzte Chance“[15], wie es der
UN-Sonderbeauftragte nennt, zu nutzen? Die Waffenruhe hat am 10.04.2016
tatsächlich begonnen, doch zu Verhandlungen ist es bisher nicht gekommen. Es
scheint, als bleibe der Jemen weiterhin sowohl ein Opfer des Kampfes um die
Vorreiterstellung in der islamischen Welt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran
als auch des mangelnden internationalen Interesses angesichts des relevanter
scheinenden Kampfes gegen den IS. Eine Politik, welche schnell fehl gehen kann,
denn der Jemen ist schon als Trainingsgelände für Terrorgruppen bekannt - al-Qaida hat bisher nur Profit aus dem
Bürgerkrieg gezogen[16] - und der
derzeit im Rückzug befindliche IS, wird sicherlich nicht zögern, sich dort
anzusiedeln – wie schnell er dazu in der Lage ist, belegen die in Libyen
befindlichen Ausbildungslager.
3.5 Libyen
Wie soeben gezeigt, hat sich die
Situation im Jemen nach dem scheinbar erfolgreichen Sturz von Präsident Salih
2011 hin zu einem Bürgerkrieg sogar zu einem zwischenstaatlichen Konflikt
entwickelt. Ganz ähnlich sah es bis vor kurzem in Libyen aus. War nicht auch in
diesem Land der „Arabische Frühling“ erfolgreich? Ja, 2011 gelang es den
libyschen Rebellen mit ihrer neu gebildeten Führung von der Stadt Bengasi aus
mit Unterstützung der NATO das Regime Gaddafi zu stürzen[17].
Doch schnell zeigte sich, dass die neue gewählte Regierung nicht allen
Bevölkerungsgruppen – auch hier gibt es Differenzen zwischen Stadt- und
Landkultur[18] –
entsprach, was schließlich bis 2015 zu einer gespaltenen Regierung des Landes
führte. Noch bis Anfang April diesen Jahres befand sich die Hauptstadt Tripolis
in den Händen der moderat islamistischen Oppositionsregierung, während die
westlich eingestellte und anerkannte Regierung in Tobruk saß. Eine Situation,
die für das gesamte Land eine Pattsituation ohne Entwicklung im Hinblick auf
dringend benötigte Reformen nach dem Regime Gaddafi darstellte, Hilfe im Kampf
gegen die Flüchtlingsströme minimalisierte und zudem dem IS die Etablierung von
Ausbildungslagern im Land erleichterte. Folglich ergibt isch eine Bedrohung
insbesondere für das Nachbarland Tunesien (siehe Blog 4) aber auch Europa und
ganz Afrika. Wie sieht die Lage aktuell aus?
Im Dezember 2015 kam es unter
Vermittlung der UN zu einem Friedensabkommen mit dem Ziel, zunächst eine
Einheitsregierung in Libyen zu etablieren und dann vertreten durch die USA,
Frankreich und Großbritannien mit Luftangriffen gegen die im Land befindlichen
IS Ausbildungslager vorzugehen. Am 31.03.16 ist nun der Chef der international
anerkannten Einheitsregierung, Ministerpräsident Fajis Sarradsch, trotz des
Widerstandes der islamistischen Führung in Tripolis eingetroffen; dabei sagte
er: „Es ist Zeit für all uns Libyer, zum Wohle Libyens zusammenzuarbeiten“ und
„Vergeltung, Ausgrenzung, Antipathie und Hass bauen keinen Staat auf.“[19]
Diese Aussagen machen Hoffnung auf eine produktive Politik im Sinne Libyens
aber auch gerade in Sachen Flüchtlingspolitik für Europa und vielleicht im
Hinblick auf ein internationales Vorgehen gegen den IS im Land – wenn die neue
Regierung dem zustimmt. Mittlerweile ist die islamistische Schattenregierung
vor genau einem Monat, am 06.04.16, zurückgetreten, ob dieser Rückzug
tatsächlich von allen Mitgliedern dieser Gruppe getragen wird, ist unklar und
wie ein letzter Bericht des UN-Sondergesandten Kobler vom 29.04.16 zeigt,
stehen auch nicht alle Libyer hinter der neuen Regierung, die sie als vom
Westen bevormundet ansehen. Tatsache ist, dass die Libyer dringend ein
funktionierendes System brauchen, denn trotz seines Erdölreichtums steht das
Land fünf Jahre nach Gaddafi in sozialer Hinsicht äußerst schlecht da, wie der
UN-Sonderbeauftragte Kobler berichtet:
„Es gibt keine Medizin in den
Krankenhäusern, nur noch auf dem freien Markt, es gibt keine Subventionen mehr
für die Nahrungsmittel, und das in einem potenziell ölreichen Land, was reich
war, was wirklich Subventionen verteilt hat, weil sie sich das leisten
konnten".[20]
Anders gesagt auch Libyen ist
derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen, nicht nur auf Gelder die im Kampf
gegen die Flüchtlingsströme von Europa geleistet werden oder eine gezielte
Anti-IS Politik. Vielmehr gilt es nun die frisch etablierte Einheitsregierung zu
unterstützen und zeitnah soziale und wirtschaftliche Reformen auf den Weg zu
bringen, um auf diese Weise zum einen die Libyer für ihre neue Regierung zu
gewinnen und zum anderen dadurch die Attraktivität des IS – der ja bereits in
der Stadt Sirte ansässig ist – zu vermindern und ihm quasi den Anhänger-Zustrom
abzugraben. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Situation in ganz Afrika
von großer Bedeutung, wie der folgende kurze Exkurs zeigen wird.
Exkurs: Afrika und der
militante Islam
Wie wir bisher gesehen haben,
vereinigt die meisten der bisher betrachteten Staaten, dass die Bevölkerung
unzufrieden mit ihrer Regierung war bzw. ist, eine große Quote an Arbeitslosen
existiert und starke Armut herrscht – was die Länder zum idealen
Rekrutierungsfeld für den IS oder auch al-Qaida macht. Genau diese Situation
findet sich entsprechend in vielen afrikanischen Staaten, z.B. Niger, Mali,
Nigeria usw. Die meisten Leser sind sicherlich auch mit der bekanntesten
afrikanischen Terrormiliz vertraut, Boko Haram, die in Nigeria ein eigenes
Territorium beherrscht und mittlerweile ihre Loyalität zum IS bekannt gegeben
hat. Erst zu Anfang des Jahres gab es u.a. an der Elfenbeinküste Anschläge auf
Hotels, bereits vor zwei Jahren ging die Meldung von entführten Schülerinnen
durch die Nachrichten. Alles der IS? Es ist tatsächlich schlimmer: gerade weil
viele afrikanische Staaten insbesondere unter wirtschaftlich und sozialen
Missständen leiden, welche von den Regierungen kaum angegangen werden, wird
Afrika von IS und al-Qaida gleichzeitig im Wettkampf um Anhänger gewissermaßen
„heimgesucht“. Das bedeutet nicht, dass die beiden großen islamistischen
Vorreitergruppen selbst vor Ort sind, vielmehr rekrutieren sie aus lokal
ansässigen islamistischen Gruppen, indem sie diese mit Geld und Propaganda
unterstützen und dafür Loyalitätsbekundungen und Einfluss in für sie so
unbekannten Territorien erhalten. Aus Sicht Europas und der restlichen Welt
bedeutet dieses Szenario, das Hilfe für die afrikanische Staatenwelt dringend
und zielgerichtet geleistet werden muss, da Afrika sonst sicherlich langfristig
zum Auffangbecken für islamistische Terroristen werden wird, sollte es z.B.
gelingen, den IS aus Irak und Syrien zu vertreiben.[21]
3.6. Zwischenfazit
Wie die Darstellung zeigt, hat
der IS große Auswirkungen auf viele Staaten im Nahen Osten und auch auf Afrika,
deren Stabilität durch die politische Entwicklung sowie die Flüchtlingsströme
der letzten Jahre bedroht ist. Ob Syrien und Irak je wieder zu den Staaten
werden können, die sie vor syrischem Bürgerkrieg und IS waren, ist auch durch
die jüngste Entwicklung in Irak sehr fraglich; wie lange die beiden direkten
Nachbarn Jordanien und der Libanon noch fähig sind ihre Regierungen vor der
Implosion zu bewahren ebenso. Ägypten steht möglicherweise ebenfalls wieder
kurz vor einer Demonstrationswelle gegen die gegenwärtige Regierung, während im
Jemen um Verhandlungen über einen Frieden gerungen wird und in Libyen die
gerade frisch eingesetzte Einheitsregierung um Akzeptanz durch das eigene Volk
ringt. Was folgt daraus für die restliche Welt, für Europa, USA und Russland?
Es muss gehandelt werden und zwar auf mehreren Ebenen: im direkten Kampf gegen
den IS und im Hinblick auf Erfolge in den Gesprächen für ein Syrien nach dem
Bürgerkrieg, der Umgang bzw. die Politik im Hinblick auf Flüchtlinge muss
verbessert werden und es müssen Maßnahmen eingeleitet werden, die verhindern,
dass Afrika noch mehr zu einem Rekrutierungsfeld und Rückzugsort für
islamistische Gruppen wird. Dabei geht es nicht nur um die dortige Bevölkerung,
sondern auch um den Schutz von Anliegerstaaten (auch Europa) und ganz besonders
des einzigen Landes, das bisher mit der Etablierung demokratischer Strukturen
aus dem sog. Arabischen Frühling hervorgegangen ist, Tunesien. Inwieweit der IS
diese junge Demokratie bedroht wird im nächsten Blogteil thematisiert.
[1] Clement, Kai (30.03.16): Ein
winziger Hoffnungsschimmer – UN- Nothelfer zur Lage in Syrien, in: http://www.tagesschau.de/ausland/un-notfhelfer-syrien-101.html,
zuletzt eingesehen am 17.04.16
[2] siehe dazu z.B. :
http://www.tagesschau.de/kinder-syrien-101.html
[3] siehe dazu:
http://www.tagesschau.de/ausland/irak-anschlaege-105.html
[4] Entsprechende Berichterstattung
in der heute Sendung des ZDF, den ARD tagesthemen und als livestream bei
al-jazeera.
[5] Stryjak, Jürgen (30.03.2016):
„Eine Tickende Bombe“ – Eine Million Flüchtlinge im Libanon, in:
http://www.tagesschau.de/ausland/libanon-stimmung-101.html.
[6] Jordanien, in:
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Jordanien_node.html
[7] Mende, Claudia (2011): Bröckelnde
Tabus – Proteste in Jordanien, in:
https://de.qantara.de/content/proteste-jordanien-brockelnde-tabus
[8] o.A. (11.03.2016): Arabische Liga
erklärt Hisbollah zur Terrororganisation, in:
http://www.tagesschau.de/ausland/arabische-liga-hisbollah-101.html.
[9] siehe dazu ausführlich: Wimmern,
Heiko (08/2013): Libanons langsame Selbstzerstörung, in: http://www.swp-berlin.org/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktuell-detail/article/libanons_langsame_selbstzerstoerung.html
und ders. (April/2015): Libanesischer Balanceakt am Abgrund, in: http://www.swp-berlin.org/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktuell-detail/article/libanon_balance_am_abgrund.html,
zuletzt eingesehen am 30.04.2016
[10] Aufgrund der Vielzahl an
Dokumentationen und Publikationen gerade zum Sturz Mubaraks hier nur zwei
ausgewählte Hinweise für den interessierten Leser: a) der Link zum Dossier der
ARD mit allen Sendungen, Berichten und Audios von Beginn der Unruhen in Ägypten
bis Anfang 2012 http://www.tagesschau.de/ausland/aegyptenwahldossier100.html
und b) verschiedene Analysen und Stellungnahmen bis zur gegenwärtigen
Entwicklung (Übersicht der verfügbaren Materialien) bei der Stiftung für
Politik und Wissenschaft
http://www.swp-berlin.org/de/nc/suchergebnisse/group/flat/extResume/1/monthFrom/-1/monthTo/-1/sword/%C3%84gypten/type/1/_sections/0/pointer/4/ext/0/lang/-1/submit_button/Suchen/freeIndexUid/-1/results/10/defOp/0/sections/0/media/-1/order/mtime/desc/0/authors/-1/researchgroups/-1/publicationdate/-1.html?tx_indexedsearch[publicationdateto]=-1
[11] Siehe dazu ausführlicher: http://www.swp-berlin.org/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktuell-detail/article/aegyptens_nilwasserpolitik.html;
http://www.swp-berlin.org/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktuell-detail/article/aegypten_al_sisis_entwicklungsvisionen.html;
https://www.giga-hamburg.de/de/publication/sisis-%C3%A4gypten
[12] Siehe dazu auch einen Bericht des
Spiegel vom 26.04.16: Proteste gegen Sisi, Dutzende Journalisten in Ägypten
festgenommen, in: http://www.spiegel.de/politik/ausland/aegypten-journalisten-bei-anti-sisi-protesten-festgenommen-a-1089339.html
[13] ausführlich zur Entwicklung im
Jemen seit 2011 siehe: Transfeld, Mareike (2015): The Failure of the
Transitional Process in Jemen, in SWP-comments 2015/C06 Februar 2015, http://www.swp-berlin.org/en/publications/swp-comments-en/swp-aktuelle-details/article/yemen_transitional_process_failed.html
[14] Es gibt einige Artikel
unterschiedlicher Autoren mit Erklärungen für die aktuelle Politik
Saudi-Arabiens im Jemen, z.B. mit historischer Perspektive, die hier nicht
diskutiert werden können. Interessenten seien verwiesen auf die Sammlung an
Jemenartikeln bei qantara.de http://de.qantara.de/search/overview/jemen;
[15] o.A. (23.03.2016): „Unsere letzte
Chance“, in: http://www.tagesschau.de/ausland/jemen-469.html
[16] siehe dazu ausführlich: Steinberg,
Guido (2015): Avantgarde des internationalen Terrorismus, in: SWP-Aktuell
2015/A 87, Oktober 2015, http://www.swp-berlin.org/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktuell-detail/article/avantgarde_des_internationalen_terrorismus.html
[17] Zum sog. Arabischen Frühling in
Libyen siehe: Bundeszentrale für politische Bildung (24.10.2011): Libyen nach
der Revolution des 17. Februar, in: http://www.bpb.de/internationales/afrika/arabischer-fruehling/52398/libyen
[18] Dazu ausführlich: Pedela, Kurt (2012): Gaddafis Vermächtnis,
Zürich und o.A. (2009): Libyen: Geschichte, Landschaft, Gesellschaft, Politik,
Wien.
[19] o.a.: (31.03.16): Einheitsregierung
nimmt Arbeit in Tripolis auf, in:
http://www.tagesschau.de/ausland/libyen-255.html
[20] Ammeling, Anne (29.04.16):
Libysche Regierung ringt um Kontrolle, in:
http://www.tagesschau.de/ausland/libyen-einheit-regierung-101.html
[21] Eine ausführliche Darstellung zu
militantem Islam/Jihadismus in Afrika findet sich bei: Steinberg, Guido/Weber,
Annette: Jihadismus in Afrika, SWP 2015/S07, März 2015, in:
http://www.swp-berlin.org/publikationen/swp-studien-de/swp-studien-detail/article/jihadismus_in_afrika.html