Teil 1:
Der Wahlsieg islamischer
Parteien bei den freien Wahlen in Nordafrika 2011[1]
Tonia Schüller
1. Einleitung
Im Frühjahr 2011 überraschten Tunesien und Ägypten die
westliche Welt, indem sich die dortigen Bevölkerungen ihrer diktatorischen
Herrscher durch weitgehend unblutige Revolutionen entledigten und sich
entschlossen, ein demokratisches System aufzubauen. Schon Ende 2011/Anfang 2012
fanden in beiden Ländern die ersten freien Wahlen seit einem Vierteljahrhundert
statt – und schockierten die westliche Welt mit Wahlsiegen der islamistischen
Parteien: der an-Nahda („Wiedererwachen“, „Renaissance“) um Rāšid al-Ġannūšī in
Tunesien sowie der salafistischen Ḥizb an-Nūr (Partei des
Lichts) und der Partei der Freiheit und Gleichheit als Abspaltung der
Muslimbruderschaft in Ägypten.
Warum siegten die
Islamisten? Soll nun ein islamischer Gottesstaat an die Stelle von Diktaturen à
la Mubarak und Ben Ali treten? Diese Fragen stellen sich nicht nur die
westlichen Demokratien, sondern auch viele Angehörige der Tahrirgeneration, des
Mittelstandes, der oberen Schichten in Tunesien und Ägypten. Und wie die
westliche Welt haben sie Angst vor möglichen Folgen: einer Verschärfung des
Israelkonflikts, Kopftuchzwang, Einbrüchen beim Tourismus etc. Insbesondere in
Ägypten ergeben sich durch das Verfassungsreferendum von Dezember 2012 weitere
Fragen im Hinblick auf eine Gefährdung für die demokratische Entwicklung des
Landes einerseits, hinsichtlich der dadurch benachteiligten oder bevorzugten
Personengruppen andererseits.
Um verstehen zu können, aus
welchen Gründen die islamischen Parteien so große Erfolge bei den Wahlen in
Ägypten und Tunesien zu verzeichnen hatten, wird der vorliegende Beitrag
zunächst einen Blick auf ihre historischen Entwicklungen werfen. Für Tunesien
bedeutet dies primär die Auseinandersetzung mit Rāšid Ġannūšī als dem Gründer
der an-Nahda und seinem Staatskonzept, in Ägypten mit den Muslimbrüdern, ihrer
ursprünglichen Ideologie unter Hasan al-Banna sowie ihrer aktuellen Partei bzw.
ihrem salafistischen Pendant. Es gilt zu prüfen, welches Verhältnis beide
Gruppen einerseits zu den jeweiligen Regierungen hatten, anderseits in welcher
Relation sie zur Masse der Bevölkerung standen. Als nächster Schritt befasst
sich der Beitrag mit der Frage, welche anderen politischen Parteien als
Alternative für die Wähler zur Verfügung standen, wie es mit Wahlkampagnen
aussah und an welchen Schwächen die ersten freien Wahlen in Tunesien und
Ägypten gelitten haben. Das abschließende Fazit befasst sich mit der Frage, ob
es legitim ist, bereits von einem Scheitern der Demokratie in Tunesien und
Ägypten anlässlich des islamistischen Wahlsieges zu sprechen oder ob es sich
bei diesen ersten Wahlen nicht lediglich um einen holprigen Start handelt.
2. Tunesien: Rāšid Ġannūšī,
sein Staatskonzept und die an-Nahda
Wer steckt hinter dem politischen Programm der an-Nahda als
heute stärkster Partei des tunesischen Parlaments? Welche Ideologie vertritt
dieser Mann und was kann dies für das moderne Tunesien bedeuten? Beginnend mit
einem biografischen Abriss zu Rāšid Ġannūšī setzt sich der folgende Abschnitt
mit diesen beiden Punkten auseinander.
1.1
Kurzbiographie: Rāšid Ġannūšī
Rāšid Ġannūšī wurde 1941 in Tunesien geboren und somit als
Jugendlicher Zeuge des Unabhängigkeitskampfes seines Heimatlandes gegen die
französische Kolonialmacht. Sein Vater fungierte aufgrund seiner Korankenntnisse
als Imam und Mufti im Geburtsort von Ġannūšī und lehrte auch seinen Sohn den
Koran (Tamimi 2001: 4f.). 1959 begann Ġannūšī entsprechend das Studium an der
traditionellen islamisch-arabisch ausgerichteten az-Zaytūna Universität in
Tunis, welches er bis zum Jahr 1962 betrieb. Da ihm sein Studienabschluss kaum
Perspektiven in beruflicher Hinsicht bot, begab sich Ġannūšī 1964 nach Kairo,
um Landwirtschaft zu studieren, reiste jedoch noch im selben Jahr nach Damaskus
weiter, da ihm das dortige politische Klima besser zusagte. In der syrischen
Hauptstadt studierte Ġannūšī von 1964-1968 Philosophie, unterbrochen von einer
Reise durch Europa mit Arbeitsaufenthalten in Deutschland und Frankreich. Nach Absolvierung
seines Studiums in Damaskus begab sich Ġannūšī nach Paris, um dort an der
Sorbonne zu promovieren, brach dieses Unterfangen jedoch nach kurzer Zeit ab
und kehrte Anfang der 1970er Jahre nach Tunesien zurück.
Ab hier lässt sich sein
Wirken als islamischer Reformator gut zurückverfolgen, zunächst im Rahmen des
herrschenden Systems wie etwa bei Auftritten der Seminare zum Islamischen
Denken in den Jahren 1970-1972 (Tamimi 2001: 31). Da Ġannūšī die staatlichen
Vorstellungen der Islam-Politik nicht umfassend genug erschienen, gründete er
1981 inspiriert von der iranischen Revolution 1979 zusammen mit fünf weiteren
Studenten das „Mouvement de la Tendence Islamique (MTI, ḥarakat al-ittiǧah al-Islāmī), Vorläuferin
seiner heutigen Partei, der an-Nahda. Da sich diese Bewegung gegen die aus
ihrer Sicht despotische tunesische Regierung richtete, wurde Ġannūšī von
1981-1984 inhaftiert, 1987 im Rahmen einer erneuten Verhaftung sogar zum Tode
verurteilt. Allein die Machtübernahme von Ben Ali 1988 führte zu seiner
Begnadigung und zur Neugründung seiner Bewegung als die heute bekannte
an-Nahda. Da der neue Präsident jedoch keineswegs eine mächtige
Oppositionspartei duldete, wurde der Antrag der an-Nahda auf Anerkennung als politische
Partei abgelehnt und Ġannūšī begab sich ins Exil nach London, wo er sich bis
zum Umsturz im Februar 2011 aufhielt. Seit seiner Rückkehr nach Tunesien hat
sich Ġannūšī, der selbst nicht als Wahlkandidat auftrat, bei wiederholten
Presseauftritten bemüht, herauszustellen, dass die an-Nahda bei einem Wahlsieg
keineswegs eine gänzliche Islamisierung des Landes à la Iran anstrebe. Vielmehr
nannte Ġannūšī die türkische AKP[2] als Vorbild seiner Partei
(von Rohr 2011). Diese Aussage führte der Parteigründer nach dem Wahlerfolg der
an-Nahda wie folgt aus: „Es gab viele Menschen, die Angst vor Islamisten gesät
haben. Heute versichere ich Ihnen, und ich verspreche Ihnen: Wir zwingen
niemanden zu etwas, was er nicht will, und dass wir die bürgerlichen Freiheiten
garantieren und respektieren werden.“ (Ghannouchi 2011)
1.2 Das
Staatsverständnis von Rāšid Ġannūšī: „Die
allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat“ (Ghannouchi 1993a)
Wie genau soll nun nach Meinung von Ġannūšī die neue
tunesische Verfassung aufgebaut sein? Wie verbindet er in seiner Ideologie
westliche demokratische Vorstellungen mit islamischen Werten?
Grundsätzlich lehnt Rāšid Ġannūšī
die Demokratie als Produkt des Westens nicht ab, er fordert vielmehr ihre
Anpassung an die Bedürfnisse der islamischen Welt, konkret seines Heimatlandes
Tunesien. Aus diesem Grund setzte er sich zunächst mit der westlichen,
liberalen Demokratie kritisch auseinander und zeigte ihre Vorteile und
Schwächen auf:
„Angesichts
einer Zivilisation, die geknebelt war durch die Machtsucht totalitärer Könige,
war es nur ein zu legitimes Ansinnen, den Menschen von Ausbeutung befreien zu
wollen, Gleichheit zu propagieren, um Privilegien aufzuheben, den Menschen zu
befreien, um seinen Wert vor den Institutionen der Kirche und des Feudalsystems
zu bekräftigen, die Macht in die Hand des Volkes zu legen anstatt in die Hand
eines Königs, und den Pluralismus anstelle der Einzelherrschaft, und die
Trennung der Gewalten, um Ausbeutung zu verhindern. So sind die wichtigsten
Säulen der liberalen Demokratie: Die Volksherrschaft, die Wahl und die Trennung
der Gewalten sowie die allgemeinen Freiheiten von Parteien etc., die dem Volk
also die Druckmittel in die Hand legen sollen, mit denen sie ernsthaft den Befehlshabern
entgegentreten und deren Entscheidungen beeinflussen können.“ (Ghannouchi 1993a:
76)[3]
Ġannūšī anerkennt hier sowohl die historischen Wurzeln als
auch die Idee der Volksherrschaft zur Ablehnung von Tyrannei; ebenso sieht er
die Mechanismen der liberalen Demokratie durchweg positiv. Die negativen
Aspekte westlicher Demokratie, ihre inhumane Seite als Auslöser für Genozide
und Kriege zwischen den Staaten, lastet er hingegen der westlichen
materialistischen Philosophie von beispielsweise Darwin, Hegel und Nietzsche an
(Tamimi 2001: 87). Hier ist, so Ġannūšī, der Egoismus nach innen und nach außen
der oppressive Charakter der westlichen Demokratien begründet, den er selbst ablehnt.
Im Grundsatz lässt sich feststellen, dass Ġannūšī ein politisches System
vorschwebt, welches die Kontrollmechanismen einer westlichen Demokratie zum
Schutz des Volkes vor Machtmissbrauch durch die Eliten nutzt, wobei der Geist
des Islam Grundlage des Staates sein soll, um so dessen Offenheit für die
Interessen aller Menschen zu gewährleisten (Ghannouchi 1993a: 87).
Aufbauend auf dieser
Kernidee geht Ġannūšī davon aus, dass der Staat dafür verantwortlich ist, die
sowohl im Koran als auch den internationalen Konventionen verankerten
Menschenrechte sowie das Recht auf öffentliche und individuelle Freiheit zu
erklären. Wie Moussalli treffend zusammenfasst, hängt aus Sicht
von Ġannūšī die
politische Legitimität von jedwedem politischen System somit davon ab, dass es
Freiheit für politische Parteien und diverse Elemente der Gesellschaft bereit
stellt.
„They should be allowed to compete peacefully over
social, political and ideological agendas. This system must permit free
elections to representative councils and institutions so that they may
contribute to representative councils and institutions so that they may
contribute to state administration.“ (Moussalli 1999: 94)
Politische Parteien sowie unterschiedliche Organisationen
als Instrumente des Volkswillens bilden für Ġannūšī die Basis seines
islamischen Staatskonzeptes mit Mehrparteiensystem und einer repräsentativen
Regierung und er lehnt ein Einparteiensystem, selbst einer islamischen Partei,
ab. Entsprechend erklärte er die Position der MIT 1981 zum Respekt gegenüber
dem Volkswillen in einem islamischen Staat bei einem Interview für ein
kuwaitisches Magazin wie folgt:
„Wir müssen
den Willen der Massen respektieren, wenn sie sich entscheiden, einen anderen
Weg zu wählen als den unseren. Wir sind keine Wächter über den Menschen. Wenn
sich folglich unsere Gesellschaft eines Tages dafür entscheidet, atheistisch zu
werden oder gar kommunistisch, was könnten wir da tun?“[4]
Bis zu diesem Punkt erscheint das Staatskonzept Ġannūšīs
tatsächlich der westlich-liberalen Demokratie stark angenähert. Er betont
lediglich die Notwendigkeit, dass es sich zugleich um ein islamisches
Staatswesen handeln müsse. Dies begründet Ġannūšī mit dem im Koran verankerten
Prinzip der Stellvertreterschaft der Menschen für Gott, wie er in seinem Werk Die
politische Philosophie im Islam (Ghannouchi 1993b: 2f) erläutert. Hierbei
handelt es sich jedoch keineswegs um ein westliches Verständnis von Freiheit,
sondern um ein eigens entwickeltes islamisches Freiheitskonzept. Demnach
beinhaltet Freiheit nicht nur die Erlaubnis zum Handeln, sondern auch
Verantwortung, Bewusstsein und Einstehen für Wahrheit, weshalb Gott zu dienen
der alleinige Weg zur Freiheit sei (Tamimi 2001: 75f). Im Ergebnis kommt Ġannūšī
damit zum Ideal einer islamischen Demokratie in den Grenzen des im Rahmen der
Scharia Zulässigen. Letztere ist analog die oberste Autorität in seinem
Staatskonzept (ebd.: 90).
Entsprechend gestaltet Ġannūšī
die Gewaltenhierarchie in seinem islamischen Staat klar zugunsten der
Gesetzgebung, die auf Koran, Sunna und den Rat der Religionsgelehrten zurückgeht
und allen anderen Bestandteilen des Staates übergeordnet ist. Damit indes keine
Monopolisierung einzelner Interpretationen der Scharia entsteht, nutzt Ġannūšī
das Konzept des Mehrparteiensystems, welche innerhalb der vom Islam
vorgegebenen Grenzen unterschiedliche Positionen vertreten und zur Wahl stellen
sollen (ebd.: 83, 99).
Nur im Rahmen von
administrativen Angelegenheiten, welche in der Scharia nicht eindeutig geregelt
sind, gewährt Ġannūšī demnach dem Volk die Möglichkeit, individuell nach
Maßgabe der šūrā (beratende Versammlung)[5] in vierfacher Form an der
staatlichen Gewaltenteilung und der Einhaltung der islamischen Regeln mitzuwirken:
1.
Durch
die Wahl von Rechtsgelehrten in eine religiösen Kontrollrat zur Prüfung von
Parlamentsentscheidungen auf ihre Kompatibilität mit dem Islam.
2.
durch
Wahl von Volksvertretern zum Parlament
3.
durch
Plebiszite bei wichtigen Entscheidungen und
4.
durch
die direkte Wahl des Staatsoberhauptes (Tamimi 2001: 100).
Zusammenfassend ergibt sich, dass Ġannūšī zwar
demokratische Ideen in seinem Staatskonzept appliziert und den Menschen auch
gewissen Freiheiten zugesteht, allerdings nur im Rahmen dessen, was die Scharia
an Gestaltungsfreiheit gewährt. Ġannūšī geht davon aus, dass das Volk nur ein
einziges Mal tatsächlich die absolute Freiheit hat, außerhalb dieses
islamischen Konzepts zu wählen: in einer Grundsatzwahl, in der die Entscheidung
für oder gegen ein religiös motiviertes Staatswesen fallen muss. Ist diese Wahl
einmal zugunsten des islamischen Modells getroffen, wird dieses Modell
unabänderlich umgesetzt.
1.3 Das
Verhältnis der tunesischen Regierung zu den Islamisten/an-Nahda bis 2011 und
deren Vorteil bei den Wahlen nach der Arabellion
Wie schon in der Biografie von Ġannūšī deutlich wurde,
waren Anhänger seiner Partei bzw. islamistischer Vorstellungen unter der
Regierung Ben Ali harten Repressionen ausgesetzt. Dies gilt beispielsweise auch
für den kurzzeitigen (am 19. Februar 2013 zurückgetretenen) Ministerpräsidenten
Hammādī al-Ğabālī (geb. 1949), der von 1992 bis zur Revolution 2011 teils unter
härtesten Bedingungen – Einzelhaft und Entzug jeglicher Bücher, auch des Korans
– inhaftiert war.[6]
Dies ist bereits ein wichtiger Punkt, der den Wahlsieg der an-Nahda
verständlicher macht: Ihre Mitglieder haben aus Sicht der tunesischen
Bevölkerung den Vorteil, nicht mit dem alten Regime kollaboriert zu haben. Ihre
Wahl symbolisiert folgerichtig einen kompletten Bruch mit der Vergangenheit
(Loetzler 2011).
Also ein Wahlsieg der
Islamisten aufgrund guter Reputation? Tatsächlich scheint dies einer der
Hauptgründe für ihre Stimmenmehrheit zu sein. Allerdings spiegelt sich hier
auch ein großer Gegensatz innerhalb der tunesischen Bevölkerung wider: auf der
einen Seite die vor allem in Tunis ansässige Elite mit westlich liberalen
Wertvorstellungen, welche durchaus die Bedenken Europas gegenüber den
Wahlsiegern teilt, und auf der anderen Seite die einfache Bevölkerung, die
vernachlässigte Landbevölkerung, Arbeitslose und städtische Arme, die am
meisten unter dem ehemaligen Regime gelitten haben und die Wählerschaft der
an-Nahda repräsentieren.
„Denn Nahda
ist in ihren Augen all das, was die bisherigen Herrscher nicht waren:
vertrauenswürdig, nicht korrupt, moralisch einwandfrei, sozial eingestellt. Sie
wurden von Ben Ali verfolgt, sie waren Outsider, sie hatten vom alten System
bestimmt nicht profitiert, und darin konnte man sich bei vielen anderen Politikern
nicht sicher sein. Nahda stellte in ihrer Kampagne auch einen Wirtschaftsboom
nach türkischem Vorbild in Aussicht und schaffte es, sich als einzige
Bewahrerin der arabo-muslimischen-tunesischen Identität darzustellen.“ (von
Rohr 2011)
Diese Einstellung eines Großteils der tunesischen
Bevölkerung war de facto schon vor den Wahlen bekannt. An-Nahda galt als die
größte politische Kraft und die einzige Partei, welche in der Lage war, eine
landesweite Wahlkampagne zu betreiben. Handelt es sich also um einen
gerechtfertigten Wahlsieg aufgrund vergangener Verdienste und gutem Management?
Und entspricht das Programm der Islamisten wirklich den Wünschen der Tunesier
für ihre Zukunft, so dass im Hinblick auf die Wahlen 2013/14 nach
Verabschiedung der neuen Verfassung weitere politische Siege zu erwarten sind?
1.4. Der
Wahlsieg der an-Nahda – kritische Einschätzungen
Bei einer kritischen Betrachtung der tunesischen Wahl Ende 2011
lassen sich zwei Aspekte umreißen, die den Sieg der Islamisten erheblich relativieren.
Ja, es war eine demokratische Wahl, allerdings mit einer relativ geringen Wahlbeteiligung
von max. 49% landesweit und nicht den zunächst angegebenen 99%. Was bedeutet
dies konkret für die Nahda und ihren Sieg? Klaus D. Loetzler bringt es in seiner
Analyse für die Konrad Adenauer Stiftung auf den Punkt: Streng genommen haben nur
15 Prozent der wahlberechtigten Tunesier die an-Nahda gewählt, also nicht
einmal ein Fünftel der Bevölkerung und – zentral für die kommenden Wahlen – die
Nahda profitierte jetzt von ihrer Ideologie und guter Reputation (Loetzler 2011).
Wieso ist dies relevant für Tunesiens Zukunft und sollte zugleich die Angst des
Westens vor einer Islamisierung Tunesien mindern?
Zunächst gilt, dass sich die
Nahda nun als politische Kraft beweisen und die Einhaltung ihrer
Wahlversprechen demonstrieren muss. Für die Wahlen 2013/14 werden Ideologie und
Reputation nicht mehr ausreichen, sondern nur echte Erfolge der Nahda als
politische Kraft. Diese Herausforderung für die Nahda stellt zugleich eine
Chance für die demokratisch liberalen Parteien Tunesiens, Verlierer der Wahl
2011, dar: Sie können die Zeit bis zum erneuten Urnengang nutzen, um aus ihren
Fehlern bei der letzten Wahl zu lernen und vor allem sich bei einem breiteren
Publikum bekannt zu machen. Außerdem ist absehbar, dass die gemäßigten Parteien
von Problemen innerhalb der Nahda, der Auseinandersetzung zwischen ihren
gemäßigten Anhängern und den Hardlinern salafistischer Prägung, profitieren
werden. Dass etwa der Ex-Ministerpräsident Ğabālī hinsichtlich des Verhältnisses
Scharia – Verfassung feststellte: „Wir verstehen die Scharia als islamische
Gesetzgebung, als Garant sozialer Gerechtigkeit und als Freiheit der Wahl“[7] und sich einen hohen Rat
wie im Iran oder ein Tugendkomittee à la Saudi Arabien nur eingeschränkt
vorstellen konnte,[8]
vermochte die alsbald aufkeimende Kritik vieler Tunesier an ihrer neue Führung kaum
zu entschärfen. Vor allem aber isolierte sich Ğabālī mit seinen Ansichten (insbesondere
mit dem Vorschlag einer parteilosen Expertenregierung als Reaktion auf die
Massenproteste nach der Ermordung des säkularen Oppositionsführers Chokri
Belaïd) zunehmend innerhalb seiner eigenen und gab infolgedessen seinen
Rücktritt bekannt. Die Reaktionen der Salafisten auf die Ausstrahlung des
Filmes Persepolis[9]
mit einer gegenüber dem Iran kritischen Haltung und der Streit um die Zulassung
des Kopftuches an tunesischen Universitäten zeigen überdies, dass die Nahda
sich mit der Einhaltung ihrer Versprechen zur Meinungs- und Pressefreiheit
schwer tut. Ca. zwei Jahre nach ihrer Revolution haben viele Menschen in
Tunesien nicht den Eindruck, mehr Freiheiten zu besitzen, sondern fühlen sich
zum Großteil genauso beobachtet wie unter dem alten Regime. Hinzu kommt, dass
ein Großteil der unter dem Regime Ben Alis z. B. durch Arbeitslosigkeit Benachteiligten
keine Veränderungen seit der Jasminrevolution und der Übernahme der neuen
Regierung sehen. Entsprechend regen sich zunehmend Stimmen, die eine
Weiterführung der Revolution fordern.[10]
Zusammenfassend lässt sich
daher zum Wahlsieg der Nahda in Tunesien und den skizzierten Befürchtungen
sagen, dass der Sieg der Ideologie und guten Reputation eher vorläufigen Charakter
besitzt und von einem tragfähigen Parteiprogramm bzw. politischer
Leistungsfähigkeit erst bestätigt werden muss. Dies vorausgesetzt, war die Wahl
in Tunesien weniger eine Niederlage für gemäßigte, liberale Parteien oder gar
die Demokratie, sondern ein erster Schritt in einem langwierigen Lernprozess
sowohl der tunesischen Wahlbürger als auch des Gesamtspektrums an politischen
Gruppen. Wie und ob die Tunesier ihr Land tatsächlich in jener islamistischen
Prägung wollen, von der die Programmatik Ġannūšīs aus dem Jahr 1993 eine
Vorstellung gibt, werden erst die Wahlen 2013/14 nach Verabschiedung einer
neuen Verfassung zeigen.
2. Ägypten:
Die ideologische Entwicklung der Muslimbruderschaft und die Salafisten
Verglichen mit der noch relativ jungen an-Nahda um Ġannūšī
in Tunesien blickt die Muslimbruderschaft in Ägypten auf eine über
achtzigjährige Geschichte und damit sowohl ideologische als auch politische und
soziale Entwicklung zurück. Bei dieser kam es auch zu einer Teilung in die
heutigen Hardliner/Salafisten um die Ḥizb an-Nūr und die moderaten
Muslimbrüder repräsentiert durch die Partei der Freiheit und Gleichheit. Im
Folgenden wird zunächst die Entwicklung der Muslimbruderschaft sowie das
Programm ihrer Partei präsentiert, anschließend geht der Aufsatz auf die
Salafisten und die Ḥizb an-Nūr als ihre aktuell
wichtigste Repräsentantin ein.
2.1 Die frühe
Ideologie der Muslimbruderschaft: Islamischer Staat, Demokratie und šūrā bei Ḥasan
al-Bannā
Die 1928 von dem Ägypter Ḥasan al-Bannā (1906-1949)
gegründete Muslimbruderschaft hat sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer
weltweit führenden Bewegung innerhalb des Nahen Ostens entwickelt. Am Anfang
der Bewegung stand die Idee al-Bannās, einen islamischen Staat zu schaffen,
welcher die seiner Ansicht nach im Ägypten der 1930er Jahre herrschenden
Missstände beseitigen sollte. Sein Entwurf eines islamischen Staatskonzeptes
war folglich an einen bestimmten zeitlichen Kontext gebunden. Wie sah dieser Entwurf
aus und wie stehen heutige Führungsmitglieder der Muslimbruderschaft zu diesem?
Grundlage für das
Staatsverständnis von al-Bannā ist seine Definition des Islam als „ein
vollständiges System, welches alle Aspekte des Lebens reguliert und ein System von
sozialen Normen, Regierung, Gesetzgebung, Recht und Erziehung beinhaltet“ (al-Bannā
o. J.: 53ff., 101, 104). In diesem Sinne schwebte al-Bannā eine
konstitutionelle Herrschaft durch die šūrā vor, die er begründet auf Sure 3, 159
als das „Basisprinzip von Regierungsgewalt und der Ausübung von Autorität“
(Moussalli 1999: 125) ansah. Er verwendet also genau wie al-Ġannūšī den Koran
als Grundlage für sein politisches Konzept und verwendet ihn, um die Macht des
Volkes in der Gestaltung ihres politischen Umfelds zu unterstreichen.
Al-Bannā sieht entsprechend
ein modernes Konzept der šūrā vor, welches die Notwendigkeit betont, das Volk
sowohl in politische als auch allgemeine, das Wohl der Gemeinde betreffende
Entscheidungen miteinzubeziehen. Mit diesem šūrā-Verständnis vom Volk als
Ausgangspunkt der Exekutive werden Autoritarismus sowie politische
Monopolisierung als Optionen für einen islamischen Staat abgelehnt: Kein
Herrscher darf, im Staatskonzept von al-Bannā, allein die Staatsangelegenheiten
regeln (al-Bannā 1974: 99f.).
Das šūrā-Verständnis von
al-Bannā unterscheidet sich jedoch von dem Konzept von al-Ġannūšī und steht
näher am westlichen Demokratieverständnis. Dies ergibt sich daraus, dass
al-Bannā sein Konzept nicht allein auf die göttliche Herrschaft (ḥākimiyya) gründet, sondern vielmehr zwischen göttlicher ḥākimiyya und menschlicher ḥākimiyya
unterscheidet (al-Bannā 1984: 160f.). Seiner Ansicht nach kann kein Individuum
oder eine Gruppe von Individuen für sich beanspruchen, ein göttliches Recht auf
Herrschaft zu haben, daher sieht er nur das Konzept einer menschlichen ḥākimiyya, als Herrschaft des Volkes, als realistisch an.
Bedingung hierfür ist allerdings, dass diese sich an die im Koran vorgegebenen
moralischen und ethischen Regeln hält und nur zum Ziel hat, Gutes zu ermöglichen
und Schlechtes zu verhindern (al-Bannā 1984: 160f.).
2.2 Die heutige
Sichtweise der Muslimbruderschaft zu Staat und Demokratie
Wie eben gezeigt wurde, vertritt schon al-Bannā durch die
Akzeptanz einer menschlichen ḥākimiyya ein liberaleres
Staatskonzept und Demokratieverständnis als al-Ġannūšī. Schaut man auf die
zunehmenden Bestrebungen der ägyptischen Muslimbruderschaft seit den 1980er und
90er Jahren, sich in das politische System Ägyptens zu integrieren, wird die
zunehmende Öffnung für eine liberale Staatskonzeption noch deutlicher.
Wie der Aufsatz von Ivesa
Lübben: Die ägyptische
Muslimbruderschaft: Islamische Reformbewegung oder politische Partei?
zeigt, hat sich die Bewegung 1994 „in einem Papier zur Institution der
islamischen šūrā explizit zu Parteienpluralismus, Meinungsfreiheit und dem
Prinzip der demokratischen Machtzirkulation“ bekannt (Lübben 2005: 106). Damit
geht die moderne Führung der ägyptischen Muslimbruderschaft weiter als al-Bannā
und gibt gewissermaßen das islamische šūrā Konzept zugunsten der westlichen
Demokratie auf. Allerdings ist diese Vorstellung innerhalb der Bruderschaft
zwischen der jüngeren und älteren Generation umstritten. Dies verdeutlicht der im
September 2007 von der Führung der Muslimbruderschaft herausgegebene Entwurf
eines Parteiprogramms, in welchem auch Abschnitte zum politischen System
enthalten sind. So werden zwar Prinzipien eines zivilen, demokratischen
Rechtsstaates für alle Bürger unabhängig von ihrer Konfession betont, zugleich
aber die Errichtung einer Körperschaft zur Begutachtung von Gesetzesgutachten
gefordert, da die Scharia gemäß der Verfassung Grundlage der ägyptischen
Gesetzgebung ist (Lübben 2005: 109). Diese Vorstellung einer islamischen
Kontrollinstanz findet sich ebenso bei al-Ġannūšī und zeigt, wie groß die
Bedeutung der islamischen Moral und Ethik ist. Wiewohl der Ansatz der
ägyptischen Muslimbruderschaft im Hinblick auf ihr Staatskonzept sicherlich als
progressiv angesehen werden kann, die Rolle der Scharia als limitierender,
einschränkender Faktor bleibt.
2.3 Aktuelle
islamische Parteien
Zum Zeitpunkt der Wahlen in Ägypten gab es insgesamt mehr
als zehn zugelassene islamis(tis)che Parteien. Bei der Mehrzahl derselben
handelt es sich um Abspaltungen mit geringen ideologischen Variationen von den
beiden allgemein bekanntesten religiösen Parteien, der salafistischen Ḥizb an-Nūr und der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (Ḥizb al-ḥurriyya wa-l-ʿadāla) ausgehend von der
Muslimbruderschaft. Deswegen befasst sich der folgende Abschnitt ausschließlich
mit diesen beiden Wahlsiegern von 2011.
2.3.1 Die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit (Ḥizb al-ḥurriyya wa-l-ʿadāla)
Die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit ist die
politische Repräsentantin des mainstreams der Muslimbruderschaft und gilt als
gemäßigt islamisch. Ganz im Sinne der Muslimbruderschaft betrachtet die Partei
die Prinzipien der Scharia als Hauptquelle des ägyptischen Rechts. Im Gegensatz
zu radikalen Gruppierungen, insbesondere den Salafisten verfolgt die Partei
jedoch ein flexibles Verständnis der religiösen Quellen und verlangt keine
wörtliche Auslegung von Sunna und Koran, sondern deren Interpretation und
Umsetzung angepasst an Zeit und Ort. Wichtig im Bezug auf das aktuelle
Parteiprogramm sind auch das Bekenntnis zu Meinungsfreiheit und Menschenrechten
sowie hinsichtlich der Außenpolitik eine pragmatische Haltung im Hinblick auf
Israel.[1]
Damit präsentiert sich die
Partei der Freiheit und Gerechtigkeit tatsächlich als gemäßigt islamisch/islamisch-liberal.
Ein weiterer Vorteil, der ihr zweifelsohne im Verlauf der Wahlen 2011 zugute
kam und auch für eine positive Arbeit in Zukunft spricht, ist, dass sie auf den
Erfahrungen aufbauen kann, welche die Muslimbruderschaft seit 1980 im
politischen Engagement gemacht hat. So kam es bisher häufig zum Zusammenschluss
zwischen unabhängigen Kandidaten aus den Reihen der offiziell bis 2011
verbotenen Muslimbruderschaft und der neuen Wafd Partei.
2.3.2 Die Partei des Lichts (Ḥizb
an-Nūr)
Bei der Partei des Lichts handelt es sich um den
politischen Arm der Salafisten und damit einer ultra-konservativen Richtung im
Islam, die stark von der in Saudi-Arabien beheimateten Richtung der Wahhābiten[2] beeinflusst ist. Generell
gibt es verschiedene Ausprägungen der Salafiyya, benannt nach den frommen Altvorderen
(al-salaf aṣ-ṣāliḥ) der islamischen Frühzeit,
die sich jedoch alle auf zwei Elemente zurückführen lassen: erstens reagieren
sie auf den Niedergang der islamischen Zivilisation und suchen nach einer
Gesamtlösung aller Probleme derselben und zweitens plädieren sie für eine
Überwindung des Taqlīd[3] und die Rückkehr zum iǧtihād[4] (Auslegung von Recht
anhand von Koran und Sunna unter Nutzung der eigenen Meinung) (Murtaza 2011:
27) – kurz gesagt entspricht dies dem wohlbekannten Slogan „Zurück zum Koran“.
Der bekannte Islamwissenschaftler Reinhard Schulze gibt folgende treffende
Beschreibung zur Einstellung der Salafiyya:
„Beseelt von
der Hoffnung, einen eigenständigen kulturellen Ausdruck der Moderne zu finden,
nachdem ihnen die Teilhabe an der europäischen Moderne abgesprochen worden war,
gingen die Theologen der salafīya hart mit den realen Lebensbedingungen und den
kulturellen Praktiken ihrer Landsleute ins Gericht: die gesamte jüngere
islamische Geschichte wurde […] als dekadent beschrieben und
verworfen.“ (Schulze 1994: 32)
Was für Vorstellungen und Richtungen lassen sich aus dieser
Darstellung ableiten? Insgesamt sind vier unterschiedliche Richtungen der Salafiyya
zu identifizieren: a) die reformistische Salafiyya zu Beginn des 20.
Jahrhunderts um Denker wie Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī[5] und Muḥammad ʿAbduh[6], welche offen für Themen
wie Menschenrechte und Säkularisierung war; b) die daraus hervorgehende
ideologische Salafiyya, welche den Islam als dritte Ideologie neben
Kapitalismus und Kommunismus stellte und in Ḥasan
al-Bannā und den frühen Muslimbrüdern ihre wichtigsten Vertreter hat; c) die
aus beiden Richtungen in der Phase der Repression der 50er bis 70er Jahre
hervorgegangene literalistisch-politische Salafiyya, die nach dem Scheitern
anderer Versuche Gewalt als einzige Möglichkeit zur Erreichung ihrer Ziele
ansieht und d) die literalistische Salafiyya als die Richtung, aus der die
aktuellen salafistischen Parteien hervorgehen.[7] Diese Richtung verklärt
und idealisiert die islamische Frühzeit (in etwa 622-661), wobei sie alle
Konflikte ausblendet und dem Lebenstil dieser Epoche geschichtsübergreifende
Gültigkeit verleiht. Darüber hinaus rekurriert sie auf den hanbalitischen Rechtsgelehrten
Ibn Taimiyya (1263-1328)[8], der auch die Basis für Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (1703-1792) und die Wahhābiten bildet – beide
lehnen jegliche Interpretation von Koran und Sunna durch Vernunft ab (Murtaza
2011: 28f.).
Entsprechend starr und
rigide präsentiert sich das Islam- und Scharia-Verständnis der Partei, wobei
die Scharia als die Hauptquelle des Rechts nur minimalen Spielraum hinsichtlich
der Anpassung an gegenwärtige Bedingungen erfährt. Die Quellen, Sunna und
Koran, werden von den Anhängern der Partei wörtlich ausgelegt, außerdem prägt
diese Partei ein rigides Freund-Feind-Denken im Hinblick auf den Umgang zwischen
Christen und Muslimen und ebenso mit Israel. Als zusätzliches Defizit war diese
Gruppe bis zum Sturz Mubaraks explizit unpolitisch, sie hatte bis 2011 keine
Repräsentanten im Parlament oder pflegte Kontakte mit gemäßigten/liberalen
Parteien.
Was bedeutet dieser kurze
Querschnitt durch die beiden wichtigsten islamischen Parteien Ägyptens? Vor
allem ist es als positiv zu bewerten, dass sich die gemäßigte Partei der
Muslimbruderschaft gegen die Salafisten durchsetzen konnte – hier macht zumindest
die parlamentarische Erfahrung Hoffnung auf eine Zusammenarbeit mit liberalen
Kräften. Dennoch muss die Frage gestellt werden, die schon für Tunesien galt:
warum nicht die neuen Gruppen vom Tahrir, warum keine liberalen oder säkularen
Parteien?
2.4. Die
Islamisten unter den ägyptischen Regierungen bis 2011, Schwächen der
liberal-säkularen Kräfte im Wahlkampf: Wieso siegen Muslimbrüder und Salafiyya?
Im Wesentlichen gilt für die ägyptischen Salafisten und die
Muslimbruderschaft in vieler Hinsicht das Gleiche wie für die tunesische Nahda:
Sie haben nicht mit dem alten Regime kollaboriert. Gerade Salafisten saßen
häufig bis Ende der Revolution 2011 in Staatsgefängnissen. So erklärte ein
Vertreter der Salafisten auf die Frage, wo die Ḥizb
an-Nūr während der Tahrir-Revolution gewesen sei: „Wir waren im Gefängnis“ (Jacobs/Jansen
2011). Die Muslimbruderschaft wiederum war eine offiziell verbotene Gruppe –
auch wenn sie zeitweilig unter dem Regime Mubarak durch unabhängige Kandidaten
als Opposition in Erscheinung trat – so bei den Parlamentswahlen 2005 (Lübben
2005). Kurz gesagt repräsentieren also sowohl Salafisten als auch die Muslimbruderschaft
für die ägyptische Wählerschaft die Gruppen, die am meisten Distanz vom alten
Regime versprechen und die keine „Feloul“ – so der ägyptische Ausdruck für
Mitläufer – in ihren Reihen haben.
Dies allein reicht jedoch
nicht aus, um zu verstehen, warum sowohl die Ḥizb
an-Nūr als auch die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit so viele Stimmen für
sich gewinnen konnten. Der Hauptgrund ist zumindest hinsichtlich der Partei für
Freiheit und Gerechtigkeit als Repräsentantin der Muslimbruderschaft wesentlich
logischer: Sie repräsentiert für einen Großteil der ägyptischen Bevölkerung
seit über 50 Jahren alles, was in den Bereich der Wohltätigkeit fällt. Die
ärmsten Schichten sind de facto mangels sozialer Dienste des Staates bereits
von den Sachleistungen der Muslimbruderschaft abhängig (Jacobs/Jansen
2011). Hinzu kommt die
aktive Präsenz der islamistischen Gruppen durch die Pflege persönlicher
Kontakte mit ihrer Wählerschaft, d.h. unmittelbare Zuwendung anstatt öffentliche
Wahlkampagnen und Internet. Dass letzteres ein entscheidender Punkt für den
Wahlsieg der Muslimbruderschaft ist und zugleich einer der Kritikpunkte bei den
Wahlkampagnen der liberal-säkularen Parteien, belegt die folgende Aussage der
Bloggerin Zeinobia:
„Der Sieg
der Partei der Muslimbrüder kommt nicht überraschend. Daher verstehe ich nicht,
warum die Leser der sozialen Netzwerke in Panik geraten. Vielleicht weil sie
entdeckt haben, dass nicht ganz Ägypten bei Twitter oder Facebook ist?!“[9]
Bei den Salafisten kommt ein weiterer Punkt hinzu, sie
symbolisieren für viele einfache Ägypter eine religiöse Kaste. Tatsächlich
konnten sie durch eine emotionale Sprache beeindrucken und einem Großteil ihrer
Wählerschaft aus einfachen Verhältnissen vermitteln, dass die Wahl von
Salafisten ihre Pflicht als gläubige Muslime sei und Belohnung im Paradies
beinhalte (FAZ 02.12.2011 und Abdel-Samad 2011). Sind also die langjährige
karitative Arbeit der islamischen Gruppen, ihr Glaube und ihr direkter Bezug
die einzigen Gründe für den Wahlsieg von Ḥizb an-Nūr und der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit?
Sicherlich nicht, vielmehr
spielten auch eine Reihe anderer Faktoren eine gewichtige Rolle. Als
grundlegendes Problem kann zweifelsohne die Komplexität der Wahl angesehen
werden. Diese war auf drei verschiedene Termine verteilt, mit zu großen
Wahlkreisen und wenig Vorbereitungszeit. Vor allem die beiden letzteren Punkte
sind auch im Hinblick auf die Parteien wichtig. Hier „erschlug“ schon die
unglaubliche Masse von 52 zugelassenen Parteien, welche sich zur Wahl stellten
und an allen drei Ecken des ideologischen Spektrums – religiös, säkular und
sozialistisch – ausgerichtet waren.[10] Anders ausgedrückt musste
sich der ägyptische Wähler zwischen 590 Parteilisten mit insgesamt 6591
Einzelkandidaten entscheiden (Zekri 2011) – Menschen, die insbesondere den
ärmeren Bevölkerungsschichten und der Landbevölkerung nie begegnet waren. Hinzu
kommt: viele dieser Parteien existieren erst seit dem Ende der Tahrir-Revolution,
sie sind kein Jahr alt, haben nur ein rudimentäres Programm und einen geringen
Bekanntheitsgrad unter der Bevölkerung. Dies erklärt den geringen Wahlerfolg
vieler junger Parteien. Doch was ist mit den älteren, die schon unter dem Mubarak
Regime aktiv waren, wie den säkularen Wafd al-Ǧadīd,
al-Ġad
und Ittihad ad-Dīmūkratī oder den sozialistischen at-Taġammu al-Waṭanī, at-Taqqadumī al-Wahdawī und al-ʿArabī ad-Dīmūkratī an-Nasserī?
Die Antwort ist wenig überraschend: Sie gelten vielen Ägyptern als Mitläufer,
Kollaborateure des alten Regimes, die zudem teilweise sogar bereit waren, ehemalige
Mitglieder der NDP – der Partei von Mubarak – in ihre Reihen aufzunehmen. Der
schon für Tunesien erwähnte Wunsch, mit der Vergangenheit zu brechen, hat also
auch die ägyptische Wählerschaft beeinflusst. Für viele war es die Wahl
zwischen dem alten, korrupten Regime unter neuen Decknamen oder der durch
Wohlfahrt bekannten Muslimbruderschaft in Form der Partei für Gerechtigkeit und
Freiheit bzw. den Salafisten. Als letzter Grund ist schließlich noch die
Unerfahrenheit und Zerstrittenheit der jungen Parteien, insbesondere vom
Tahrir, selbst zu nennen, ebenso wie die ungeschickte Positionierung von
bekannten liberalen Gesichtern mit guten Wahlchancen in gleichen Wahlkreisen.
Das beste Beispiel bietet der Kairoer Stadtteil Heliopolis: Hier standen sich
als liberale Kandidaten der Medienkultstar Ḥamzāwī – ehemaliger Berliner
FU Dozent und Nahostexperte für Carnegie Endowment – und die Gallionsfigur der Revolution
Salem Maḫmūd
gegenüber (Thumann 2011) – beide mit hohem Beliebtheitsgrad bei der Bevölkerung
aber nicht gemeinsam wählbar. In diesem Punkt haben die säkularen, liberalen
und sozialistischen Parteien Ägyptens in ihrer ersten freien Wahl
organisatorisch in mehreren Punkten versagt:
1.
Anstatt sich in vier maximal fünf
großen Parteien zusammenzuschließen, was beim Blick in die sehr ähnlichen
Parteiprogramme ohne Weiteres denkbar gewesen wäre, haben sie ihre Wählerschaft
mit dutzenden Wahllisten konfrontiert – unter denen die Symbole der
Muslimbruderschaft und Salafisten aufgrund ihrer Bekanntheit als ein
Rettungsanker für viele Wahlwillige wirkten.
2.
Durch mangelnde Absprache bei der
Aufstellung ihrer Kandidaten wie in Heliopolis haben sich die Liberalen selbst
ihrer besten Kräfte beraubt und damit die Chancen von Kandidaten der
islamistischen Gruppen gestärkt.
3.
Insbesondere
die aus der Taḥrīr-Revolution hervorgegangenen jungen
Parteien haben im Wahlkampf zentrale Bedürfnisse und die Erreichbarkeit ihrer
Wähler falsch eingeschätzt: Wahlkampagnen in Fernsehen und Internet sind
sicherlich in Städten wie Kairo und Alexandria wirksam, sie erreichen jedoch
kaum die Landbevölkerung und die Armen – die Masse des ägyptischen Volkes.
Am 14. Juni 2012 hat der Oberste Verfassungsgerichtshof von
Ägypten die Wahlen für nicht verfassungsgemäß erklärt und ein Drittel der
Sieger als illegitim deklariert.[11] Dürfen wir uns also
freuen, dass die Islamisten doch nicht gewonnen haben? So einfach ist es sicherlich
nicht, allerdings stellt die fragwürdige Annullierung des ägyptischen
Wahlergebnisses auch eine Chance für die Verlierer der letzten Wahl dar. Sie
können und müssen die Zeit bis zum nächsten Urnengang nutzen, um sich besser zu
organisieren, miteinander abzustimmen statt gegeneinander zu arbeiten, ihre
Kandidaten sinnvoll zu platzieren und vor allem Kontakt zu der Masse der Wähler
unter den Armen und auf dem Land zu knüpfen. Wenn diese Chance von den
liberalen, säkularen und sozialistischen Kräften in Ägypten genutzt wird, dann
sind durchaus andere Ergebnisse bei einer Neuwahl zu erwarten, denn viele
Ägypter wollen keine islamistische Regierung, sondern eine liberale Demokratie
mit moderaten islamischen Elementen.
3. Fazit: Ist
der Wahlsieg der tunesischen und ägyptischen Islamisten als Bedrohung für eine
zukünftige Demokratie in beiden Staaten zu bewerten?
Aufbauend auf den beiden Länderanalysen darf diese Frage
mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Der erste demokratische Versuch in
Tunesien und Ägypten ist nicht gescheitert, sondern schon allein aufgrund der
Wahlbeteiligung (49% in Tunesien, 70% in Ägypten) als Erfolg zu werten[12] sowie als Zeichen dafür,
dass Bevölkerungen trotz jahrelanger Diktatur einen eigenen Willen und eine
Vorstellung von ihrer Zukunft haben.
Dass diese Vorstellung mit
den Wahlen von islamistischen Parteien nicht dem westlichen
Demokratieverständnis entspricht, ist kein Grund, den Ägyptern und Tunesiern
ihre Fähigkeit zur Demokratie abzusprechen – auch in Europa waren erste
Demokratieversuche, so etwa in der Weimarer Republik, nicht sofort erfolgreich.
Ägypten und Tunesien stehen am Anfang eines Demokratisierungsprozesses: einerseits
sind ihre jungen liberalen, säkularen und sozialistischen Parteien dabei zu
lernen, wie man Wähler erreicht und eine Wahlkampagne durchführt, anderseits
müssen sich die islamistischen Parteien als effektive Politiker beweisen und
der ideologischen Grundausrichtung Taten folgen lassen. Ob sich die Islamisten
langfristig behaupten können und eine Bedrohung darstellen, kann nur die
Zukunft, mit den Neuwahlen in Tunesien nach Verabschiedung der Verfassung
2013/14 zeigen. Dann wird sich zeigen, ob der Bekanntheitsgrad der Islamisten,
religiöse Propaganda und der aktuelle Bonus, keine Mitläufer des alten Regimes
gewesen zu sein, noch genügend Wähler mobilisiert, oder ob nicht vielmehr klar
formulierte Parteiprogramme mit echten Zielen liberaler und säkularer Natur die
Oberhand gewinnen.
Im Hinblick auf Ägypten
stellt sich die freilich die Frage, wie das gerade am 15. und 22.12.2012
erfolgte Verfassungsreferendum zum einen im Hinblick auf die geringe
Wahlbeteiligung (ca. ein Drittel der Bevölkerung) und zum anderen auf eine
mögliche Islamisierung des Landes durch die Scharia zu bewerten ist.
Hinsichtlich der geringen Beteiligung am Verfassungsreferendum ist festzustellen,
dass es sich um eine stumme Form des Protestes handelte, ein Relikt aus der Prä-Revolutionszeit,
als der Ausgang von Wahlen a priori feststand. Auch darf nicht vergessen
werden, dass die Opposition aus liberalen und säkularen Kräften ihre Anhänger
zwischenzeitlich zum Boykott des Verfassungsreferendums aufgefordert hat, da
von Anfang an Wahlmanipulationen angenommen wurden. Ein Vorwurf, der leicht
nachvollziehbar ist, da 30% der Wahlberechtigten Analphabeten sind und daher
nur mit Hilfe z. B. durch einen Wahlhelfer der Muslimbruderschaft ihre Stimme
abgeben konnten. Das „Ja“ zum Verfassungsreferendum sollte dennoch nicht als
ein „Ja“ zu einem islamischen Gottesstaat in Ägypten überbewertet werden. So
gibt es zahlreiche Aussagen, dass viele Ägypter vor allem mit „ja“ votiert
haben, weil sie die andauernden Unruhen im Land nicht mehr ertragen konnten und
mit einer Zustimmung zur neuen Verfassung die Hoffnung auf neue Stabilität im
Land verbinden.[13]
Die Hauptangst der liberalen
und säkularen Kräfte in Ägypten hinsichtlich der neuen Verfassung gründet sich
auf eine zunehmende Islamisierung des Landes durch Bezugnahme auf die Scharia.
Hauptstreitpunkt ist Artikel 2, welcher die Scharia als Quelle des Rechts
definiert – einen vergleichbaren Artikel hat die aktuelle tunesische Regierung
bisher vermieden – ohne jedoch bei folgenden Artikeln zur Freiheit und Rechten
genau zu definieren, inwiefern die Scharia hier begrenzend wirken kann oder soll.
So sieht beispielsweise einer der ägyptischen Oppositionsführer, der
linksliberale Ḥamdīn Ṣabāḥī, nicht den Islam an sich als Problem an, sondern vielmehr
den Mangel an Demokratie und klar artikulierten Rechten für Arme (Sabbahi
2012).
Gibt es in Anbetracht der
neuen Verfassung immer noch Chancen für ein demokratisches Ägypten, für
liberale und säkulare Kräfte? Hierüber werden die Wahlen zum neuen ägyptischen
Parlament entscheiden und genau darin liegt auch die Herausforderung für die
Gegner von Muslimbruderschaft und Salafisten. Nur wenn es den Anführern der
„Nationalen Rettungsfront“ wie Muḥammad al-Barādaʿī, Ṣabāḥī und ʿAmr Mūsā gelingt, alle liberalen und säkularen Kräfte zu
vereinen und ihre Anhänger landesweit zu mobilisieren, haben sie eine Chance,
im Parlament ein Gegengewicht zur Verfassung und zum Präsidenten zu bilden. Dass
es sich hierbei um keine leichte Aufgabe handelt, ist angesichts der Breite des
oppositionellen Lagers wie auch der starken Netzwerke von Muslimbruderschaft
und Salafisten klar. Dennoch hat die Demokratie in Ägypten noch nicht verloren,
sie muss jedoch beweisen, dass sie geeint auftreten kann.
[1] www.fjponline.com, zuletzt eingesehen am
18.11.2012.
[2] Wahhābiten ist die Bezeichnung für die Anhänger der
Doktrin von Muḥammad
b. ʿAbd
al-Wahhāb (1703-1792), die in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Osten der arabischen
Halbinsel, im Naǧd,
entstand. Durch die Verbindung des religiösen Anführers mit dem Herrscher von
ad-Dirʿiyya
erhielt die Bewegung eine eigene Truppe, die muwaḥḥidūn, welche mit Waffengewalt die Annahme der Lehre
durchsetzen sollte. Hieraus entwickelte sich eine Eroberungswelle, die sich
beim Jahrhundertwechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert bis zu den heiligen Städten
erstreckte und so den Einfluss des osmanischen Sultans bedrohte. Nach der
Zerstörung dieses Staates 1818 durch den ägyptischen Vizekönig, gelang es 1925
erst ʿAbd
al-ʿAzīz
ibn Saʿud
(1880-1953), dem Stammvater der aktuellen Herrscherfamilie, das ganze heutige
Saudi Arabien für die Ideologie der Wahhābiyya zu erobern (vgl. Holes 2000:
39-47).
[3] Der Ausdruck taqlīd findet sich weder in Koran noch
Sunna, er ist jedoch von hoher Bedeutung für die islamische Religionswissenschaft.
Abgeleitet von dem qallada „imitieren, nachfolgen, gehorchen“ bedeutet der
Ausdruck hier im negativen Sinne die blinde und gedankenlose Akzeptanz einer
religiösen Autorität bzw. deren Lehrmeinung (vgl. Calder 2004).
[4] Iǧithād
ist ein terminus technicus des Islamischen Rechts. Zunächst bezeichnete er den
Gebrauch individueller Vernunft im Allgemeinen zur Herausarbeitung von Recht.
Später wurde der Gebrauch auf die Nutzung von Vernunft durch Analogieschluss
(kiyās) beschränkt und darf nur von speziell ausgebildeten Rechtsgelehrten, den
muǧtahīd,
ausgeübt werden. Nachdem diese Form der Rechtsprechung in der Frühzeit des
Islam sehr erfolgreich war, vertraten die Gelehrten des 10. Jahrhunderts die
Meinung, dass alle Rechtsfälle bereits vorgekommen sein und erklärten daher das
„Tor des Iǧtihād“
als geschlossen. Folglich müsste jede aktuelle Entscheidung zum islamischen
Recht basierend auf Entscheidungen aus dem 6. bis 10 Jahrhundert getroffen
werden (vgl. Schacht 2004).
[5] Ǧamāl
ad-Dīn al-Afġānī wurde 1838 in Afghanistan geboren. Nach Abschluss seiner
Schulbildung reiste er mehrfach nach Indien und Ägypten, später auch nach
Istanbul, wo er mit dem Gelehrtenrat zusammentraf. Während seines
Ägyptenaufenthaltes bis 1879 nahm er großen Einfluss auf das religiöse und
politische Leben in Ägypten, indem er als Freimaurer aktiv war und die lokale
Presse förderte. Aufgrund seiner politischen Haltung aus dem Niltal verbannt,
begab sich al-Afġānī nach Paris, wo er seine pan-islamischen Gedanken weiter
verbreitete. Später wurde er zwischenzeitlich im Iran und erneut in Europa
aktiv, bevor er in Istanbul sesshaft wurde, wo der Sultan versuchte, ihn als
seinen Chefideologen einzusetzen und gleichzeitig seine Kontakte zu anderen
Intellektuellen einzuschränken. Al-Afġānī starb 1897 in Istanbul (vgl. az-Ziriklī
1984, Bd. 2: 168 sowie ausführlich Keddie 1972).
[6] Muḥammad ʿAbduh wurde 1849 in der unterägyptischen Provinz Buḥayra geboren. 1862 begann
er zunächst in Ṭanṭa Theologie zu studieren,
wechselte jedoch 1865 an die Azhar. Dort kam er in Kontakt mit den Ideen von
al-Afġānī, als dessen bedeutendster Schüler ergilt. Durch di politische Lage
inspiriert, begann ʿAbduh
1876 mit journalistischen Aktivitäten und schloss gleichzeitig sein
theologisches Studium ab; 1879 wurde er zum Lehrer am Dār al-ʿulūm ernannt. Ab 1880 war
ʿAbduh
Herausgeber der ägyptischen Staatszeitung, in der er die Gedanken der liberalen
Gruppen vertrat. Als Folge der ʿUrābī-Revolte (1879-1881) wurde er zwischenzeitlich aus
Ägypten verbannt und schloss sich al-Afġānī in Paris an. 1889 erhielt ʿAbduh die Erlaubnis zur
Rückkehr nach Ägypten. Zehn Jahre später übernahm er den Posten des
Staatsmuftī, das höchste religiöse Amt in Ägypten, welches er bis zu seinem Tod
1905 ausübte. Bekannt ist ʿAbduh
vor allem durch drei Ideen: die islamische Reformpolitik, die Wiederbelebung
der arabischen Sprache und seiner Forderung auf Anerkennung der Rechte des
Volkes durch die Herrscher (vgl. Schacht 1991: 418ff.).
[7] Eine ausführlichere Darstellung aller Richtungen
findet sich bei Murtaza 2011: 28-33.
[8] Ibn Taimiyya (1263-1328) verbrachte den Großteil
seines Lebens in Damaskus und war Anhänger der hanbalitischen Rechtsschule,
ohne die anderen Rechtsschulen komplett abzulehnen. Sein Ziel war vielmehr die
Integration und Harmonisierung von Tradition, Vernunft und freiem Willen in
einer Doktrin des konservativen Reformismus. In diesem Sinne hält er auch den iǧtihād unter Beachtung
bestimmter Regeln für zulässig, solange er sich an Sunna und Koran orientiert
(vgl. Laoust 2003).
[9] Zit. nach Karin el Minawi 2011.
[10] Eine ausführliche Übersicht über die verschiedenen
Parteien mit ihren Kandidaten und Chancen bietet folgender Länderbericht der
Konrad Adenauer Stiftung: Gemeinder, Sahra/Jacobs, Andreas/Trepesch, Elisabeth:
Parteienmonitor Ägypten 2011, www.kas.de, 20.10.2011.
[11] Siehe die BBC News Middle East vom 14.06.2012 „Egypt supreme court
calls for parliament to be dissolved“ (http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-18439530)
(19.02.2013).
[12] Im Hinblick auf die genannten Prozentzahlen ist zu
berücksichtigen, dass in beiden Ländern lange Zeit nur „pro forma“ gewählt
wurde und das Ergebnis – ein Sieg des amtierenden Präsidenten – im Voraus
feststand, was zu einer verbreiteten Wahlmüdigkeit führte. 49% Wahlbeteiligung
mögen also auf den ersten Blick nicht wirklich viel erscheinen, sie zeigen
jedoch, dass auch jahrelange politische Unterdrückung den Wunsch der
Bevölkerung nach Äußerung ihrer politischen Meinung nicht gänzlich zum
Erlöschen gebracht hat.
[13] Dass diese Hoffnung allerdings trügerisch sein könnte,
mutmaßt die Schriftstellerin Mansura Eseddin in einem Interview mit der
österreichischen Zeitung Der Standard (Essedin
2012).
Literatur
Abdel-Samad, Hamed (2011): Gefährdete Sieger.
Ägypten nach den Wahlen, in: FAZ, 4.12.2011 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/aegypten-gefaehrdete-sieger-11551123.html)
(19.02.2013).
AFP
(14.02.2008): Rare Iran screening for controversial film Persepolis, in: http://afp.google.com/article/ALeqM5j42rPk2BytF_nzJMitnhfe-sP4hw
(19.11.2012).
Al-Bannā, Hasan (o. J.): Maǧmuʿāt Rasāʾil al-Imām, Kairo: Dār al-ḥiḍārā al-islāmiya.
Al-Bannā, Ḥasan (1974): Al-Imām aš-Šahid Yataḥaddaṯ, Beirut: Dār al-Qalam.
Al-Bannā, Ḥasan (1984): Maǧmuʿāt Rasāʾil aš-Šahid, 4. Aufl., Beirut: al-Muʾassasat al-Islāmiyyat.
Ayalon, A. (2003):
Shura, in: Encyclopaedia of Islam, CD-Rom Edition, Leiden: Brill.
Calder N. (2004) taḳlīd, in: Encyclopedia of
Islam, CD-Rom Version, Leiden: Brill.
Essedin, Mansura (2012): „Neue Verfassung macht Ägypten
nicht stabiler“, Interview mit Florian Niederndorfer, in: Der Standard
27.12.2012 (http://derstandard.at/1356426223293/Die-neue-Verfassung-macht-AEgypten-nicht-stabiler)
(19.02.2013).
FAZ (2.12.2012): Muslimbrüder als
Wahlsieger (http:www.faz.net/aktuell/feuilleton/aegypten-muslimbrueder-als-wahlsieger-11549188.html)
(19.02.2013).
Ghannouchi, Rāshid (1993a): Die
allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat (Al-Ḥurriyat
al-ʿamma
fi ad-dawla al-islāmiyya), Beirut: Markaz Dirāsāt al-Waḥda al-ʿArabīya.
Ghannouchi, Rashid (1993b): Die
politische Philosophie im Islam (Falsafāt al-islām as-siyāsiyya), Beirut:
American University Press.
Ghannouchi, Rashid (2011): On préfère
voir des non-voilées, mieux que des hypocrites (30.10.2011), zitiert nach:
Loetzler, Klaus D.: Wahlsieg der islamistischen Ennahda (http://www.kas.de/tunesien/de/publications/29284/)
(19.02.2013).
Holes,
C. (2000): Wahhābiyya, in: Encyclopedia of Islam, second edition, Bd. 11,
Leiden: Brill.
Jacobs, Andreas/Jansen, Daniel (2011): Ägyptens
Islamisten im Aufwind (http://www.kas.de/wf/doc/kas_29735-1522-1-30.pdf?111215151447)
(19.02.2013).
Keddie,
Nikki (1972): Sayyid ad-Din al-Afghani: A Political Biography, Los Angeles:
University Press.
Laoust, H. (2003): Ibn Taimiyya, in: Encyclopaedia of Islam, CD-Rom
Version, Leiden: Brill.
Loetzler, Klaus D. (2011): Wahlsieg der
islamistischen Ennahda (http://www.kas.de/tunesien/de/publications/29284/)
(19.02.2013).
Lübben, Ivesa (2008): Die ägyptische
Muslimbruderschaft: Islamische Reformbewegung oder politische Partei?, in:
Asseburg, Muriel (Hg.): Moderate Islamisten als Reformakteure? Bonn: Zentrale
für politische Bildung: 101-114.
Minawi, Karin el (2011): Die besten
Blogs zur Wahl in Ägypten, in: Süddeutsche Zeitung 31.05.2011 (http://www.sueddeutsche.de/service/die-besten-blogs-zur-wahl-in-aegypten-1.1371110)
(7.12.2012).
Moussalli,
Ahmad S. (1999): Moderate and Radical Islamic Fundamentalism – The Quest for Modernity,
Legitimacy, and the Islamic State, Florida: University Press.
Mudhoon, Loay (2009): Die türkische AKP
als Vorbild für die arabische Welt? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 39-40: 27-32.
Murtaza, Muhammad Sameer (2011): Die
ägyptische Muslimbruderschaft – Geschichte und Ideologie, o.O: Verlag rotation.
Nüsse, Andrea (2012): Tunesien: Freiheit über
alles, Tagesspiegel 15.03.2012 (http://www.tagesspiegel.de/politik/tunesien-freiheit-ueber-alles/6327598.html)
(19.11.2012).
ORF: Tausende demonstrieren in Tunesien für
Meinungsfreiheit, in: http://www.orf.at/stories/2084694/
(19.11.2012).
Rohr, Mathieu von (2011): Sieg für Nahda-Partei.
Warum Tunesien die Islamisten gewählt hat, in: DER SPIEGEL, 25.11.2011 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/sieg-fuer-nahda-partei-warum-tunesien-die-islamisten-gewaehlt-hat-a-793957.html)
(19.11.2012).
Sabbahi, Hamdin (2012): „Der Geist der
Revolution wird mit Füßen getreten“, Interview mit Markus Bickel, in: FAZ
15.12.2012 (http://www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/aegyptens-oppositionsfuehrer-sabbahi-der-geist-der-revolution-wird-mit-fuessen-getreten-11993687.html)
(15.12.12).
Schacht, J. (1991): Muḥammad Abduh, in: Encyclopaedia
of Islam, Second Edition, Bd. 4, Leiden: Brill: 418-420.
Schacht, J. (2004): igjtihād, in:
Encyclopaedia of Islam, CD-Rom Version, Leiden: Brill.
Schnelle, Josef (2007): Ärger um „Persepolis“ – Der
Iran fühlt sich in Cannes schlecht behandelt, in: Deutschlandradio 24.05.2007 (http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/628742/)
(19.11.2012).
Schulze, Reinhard (1994): Geschichte der
Islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck.
Senkyr, Jan (2011): Wahlen in der Türkei
– Erneuter Triumph für die AKP (www.kas.de/wf/doc/kas_23602-544-1-30.pdf?110811142812)
(19.02.2013).
Der Spiegel (27.03.2008): Comic-Adaption Persepolis – Libanon hebt Leinwandverbot
auf (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/comic-adaption-persepolis-libanon-hebt-leinwandverbot-auf-a-543793.html)
(19.11.2012).
Der Spiegel (15.10.2011): Tunis – Demonstration gegen
TV-Film eskaliert in Gewalt (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tunis-demonstration-gegen-tv-film-eskaliert-in-gewalt-a-791935.html)
(19.11.2012).
Tamimi,
Azzam S. (2001): Rachid Ghannouchi – A Democrat within Islamism, Oxford:
University Press.
Thumann, Michael (2011): Frei sein, auch
ohne Allah, in: Die Zeit 3.12.2011 (http://www.zeit.de/2011/49/Aegypten-Wahlen)
(19.02.2013).
Wöhler-Khalfallah, Khadija Katja (2004):
Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, Wiesbaden:
Verlag für Sozialwissenschaft.
Zekri, Sonja (2011): Wahlsystem mit
Chaospotential, in: Süddeutsche Zeitung 28.11.2011 (http://www.sueddeutsche.de/politik/parlamentswahl-in-aegypten-wahlsystem-mit-chaospotential-1.1220241)
(19.11.2012).
Az-Ziriklī (1984): al-Aʿlām, Qāmūs tarāǧim li-Ašhār ar-riǧāl wa-n-nisāʾ min al-ʿArab wa-l-mustaʿribīn wa-l-mustašriqīn, 8
Bde, 6. Aufl., Beirut: Dār al- Lubnān.
[1]
Der Text verwendet für arabische Begriffe und
Namen die Umschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, wenn es sich
nicht um eingedeutsche Begriffe wie Scharia handelt oder um bekannte Personen
wie Ben Ali/Mubarak. Bei Übernahmen aus der Literatur/Quellenangaben wird der
dort verwendeten Schreibweise gefolgt.
[2] Die türkische Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei
für Gerechtigkeit und Entwicklung) wurde 2001 von Recep Tayyip Erdoǧan gegegründet. Laut
eigener Programmatik ist sie eine konservativ/muslimisch-demokratische Partei,
international steht sie jedoch unter dem Verdacht einer anti-laizistischen
Ausrichtung und gilt seit ihrem ersten Wahlerfolg 2002 als verantwortlich für die
umfassende Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Gegenwärtig stellt die
AKP mit 326 Abgeordneten die stärkste Fraktion im türkischen Parlament, d.h die
absolute Mehrheit (vgl. Millletvekilleri Daǧılımı o. J.). Für eine weiterführende Lektüre Mudhoon
2009 und Senkyr 2011.
[3]
Bei dieser wie allen folgenden Übersetzungen aus
Quellen, die im Literaturverzeichnis in arabischer Originalsprache aufgeführt
sind, handelt es sich um eigene Übersetzungen der Autorin ins Deutsche.
[4] Siehe Abdelwaheb el-Affendy: The Long March Forward,
in: The Inquiry (Oktober 1987), zit. nach Wöhler-Khalfallah 2004: 405.
[5] Das Wort šūrā bedeutet ursächlich nur Beratung. Sowohl
der Koran (Sure 42, aš-šūrā, Vers 38 Sure 2, Vers 233 und Sure 3, Vers 159) als
auch die Prophetenüberlieferungen fordern die Muslime dazu auf, ihre
Angelegenheiten durch Beratung mit den Betroffen zu regeln und so
Entscheidungen zu treffen. So lautet beispielsweise Sure 3, Vers 159: „Und in
Anbetracht von Gottes Barmherzigkeit warst du mild zu ihnen. Wenn du grob und
hartherzig gewesen wärest, wären sie dir davongelaufen. Verzeih ihnen nun und
bitte (Gott) für sie um Vergebung, und ratschlage mit ihnen über die Angelegenheit!
Und wenn du dich (erst einmal zu etwas) entschlossen hast, dann vertrau auf
Gott, Gott liebt die, die (auf ihn) vertrauen.“ (Der Koran, Übersetzung von
Rudi Paret, Verlag W. Kohlhammer Stuttgart u.a. 1979). Heutzutage benutzen
islamis(tis)che Gelehrte oder islamisch ausgerichtete Parteien den Begriff šūrā
häufig als muslimisches Pendant zum europäischen Parlament und damit als
Argument für die Demokratiefähigkeit des Islam (vgl. Ayalon 2003).
[6] Siehe Case information: Hamadi Jebali, Commitee on Human Rights (http://sites.nationalacademies.org/PGA/humanrights/PGA_051858)
(18.11.2012).
[7] Zit. nach Nüsse 2012.
[8] Siehe hierfür das ebenfalls von Andrea Nüsse überlieferte
Zitat Ğabālīs: „Ein solcher Rat könnte für die Moscheeverwaltung zuständig
sein, aber ohne legislative Kompetenz und Kontrollfunktion“ (Nüsse 2012).
[9] Der der französische Zeichentrickfilm „Persepolis“ aus dem Jahr 2007
basiert auf dem gleichnamigen Comic von Marjane Satrapi, die auch Regie führte.
Er beinhaltet die Autobiografie von Satrapis Jugend im Iran zur Zeit und nach
der Islamischen Revolution. Während der Film in Europa durchgängig positiv rezipiert
wurde und u.a. einen Spezialpreis bei den Filmfestspielen in Cannes erhielt (http://www.moviepilot.de/movies/persepolis-2,
eingesehen am 19.11.2012), war er in der islamischen Welt von Anfang an
umstritten. Der Iran hatte zunächst gegen eine Aufführung des Films wegen
Verfälschung der Errungenschaften der Islamischen Revolution protestiert
(Schnelle 2007), im Februar 2008 dann allerdings eine zensierte Version gezeigt
(AFP 2008). Auch im Libanon wurde die Veröffentlichung des Films im März 2008
zunächst wegen Irankritik und Islamfeindlichkeit verboten und erst nach Zensur
freigegeben (Der Spiegel, 27.03.2008). In Tunesien führte die Ausstrahlung des
Films im Fernsehen am 14.11.2011 zu heftigen Protesten der Islamisten, da
mehrere Prediger ihn als blasphemisch bezeichnet hatten. Die Regierung
distanzierte sich zwar von diesen Radikalen (Der Spiegel, 15.10.2011), sah sich
jedoch in der Folge mit umfassenden Demonstrationen zur Meinungsfreiheit
konfrontiert (ORF, 16.10.2011).
[10] Tunesien-Serie: Rolle
rückwärts – das Erbe der Jasmin Revolution, in: http://www.tagesschau.de/ausland/tunesienserie106.html,
zuletzt eingesehen am 18.11.2012.
[11] www.fjponline.com, zuletzt eingesehen am
18.11.2012.
[12] Wahhābiten ist die Bezeichnung für die Anhänger der
Doktrin von Muḥammad
b. ʿAbd
al-Wahhāb (1703-1792), die in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Osten der arabischen
Halbinsel, im Naǧd,
entstand. Durch die Verbindung des religiösen Anführers mit dem Herrscher von
ad-Dirʿiyya
erhielt die Bewegung eine eigene Truppe, die muwaḥḥidūn, welche mit Waffengewalt die Annahme der Lehre
durchsetzen sollte. Hieraus entwickelte sich eine Eroberungswelle, die sich
beim Jahrhundertwechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert bis zu den heiligen Städten
erstreckte und so den Einfluss des osmanischen Sultans bedrohte. Nach der
Zerstörung dieses Staates 1818 durch den ägyptischen Vizekönig, gelang es 1925
erst ʿAbd
al-ʿAzīz
ibn Saʿud
(1880-1953), dem Stammvater der aktuellen Herrscherfamilie, das ganze heutige
Saudi Arabien für die Ideologie der Wahhābiyya zu erobern (vgl. Holes 2000:
39-47).
[13] Der Ausdruck taqlīd findet sich weder in Koran noch
Sunna, er ist jedoch von hoher Bedeutung für die islamische Religionswissenschaft.
Abgeleitet von dem qallada „imitieren, nachfolgen, gehorchen“ bedeutet der
Ausdruck hier im negativen Sinne die blinde und gedankenlose Akzeptanz einer
religiösen Autorität bzw. deren Lehrmeinung (vgl. Calder 2004).
[14] Iǧithād
ist ein terminus technicus des Islamischen Rechts. Zunächst bezeichnete er den
Gebrauch individueller Vernunft im Allgemeinen zur Herausarbeitung von Recht.
Später wurde der Gebrauch auf die Nutzung von Vernunft durch Analogieschluss
(kiyās) beschränkt und darf nur von speziell ausgebildeten Rechtsgelehrten, den
muǧtahīd,
ausgeübt werden. Nachdem diese Form der Rechtsprechung in der Frühzeit des
Islam sehr erfolgreich war, vertraten die Gelehrten des 10. Jahrhunderts die
Meinung, dass alle Rechtsfälle bereits vorgekommen sein und erklärten daher das
„Tor des Iǧtihād“
als geschlossen. Folglich müsste jede aktuelle Entscheidung zum islamischen
Recht basierend auf Entscheidungen aus dem 6. bis 10 Jahrhundert getroffen
werden (vgl. Schacht 2004).
[15] Ǧamāl
ad-Dīn al-Afġānī wurde 1838 in Afghanistan geboren. Nach Abschluss seiner
Schulbildung reiste er mehrfach nach Indien und Ägypten, später auch nach
Istanbul, wo er mit dem Gelehrtenrat zusammentraf. Während seines
Ägyptenaufenthaltes bis 1879 nahm er großen Einfluss auf das religiöse und
politische Leben in Ägypten, indem er als Freimaurer aktiv war und die lokale
Presse förderte. Aufgrund seiner politischen Haltung aus dem Niltal verbannt,
begab sich al-Afġānī nach Paris, wo er seine pan-islamischen Gedanken weiter
verbreitete. Später wurde er zwischenzeitlich im Iran und erneut in Europa
aktiv, bevor er in Istanbul sesshaft wurde, wo der Sultan versuchte, ihn als
seinen Chefideologen einzusetzen und gleichzeitig seine Kontakte zu anderen
Intellektuellen einzuschränken. Al-Afġānī starb 1897 in Istanbul (vgl. az-Ziriklī
1984, Bd. 2: 168 sowie ausführlich Keddie 1972).
[16] Muḥammad ʿAbduh wurde 1849 in der unterägyptischen Provinz Buḥayra geboren. 1862 begann
er zunächst in Ṭanṭa Theologie zu studieren,
wechselte jedoch 1865 an die Azhar. Dort kam er in Kontakt mit den Ideen von
al-Afġānī, als dessen bedeutendster Schüler ergilt. Durch di politische Lage
inspiriert, begann ʿAbduh
1876 mit journalistischen Aktivitäten und schloss gleichzeitig sein
theologisches Studium ab; 1879 wurde er zum Lehrer am Dār al-ʿulūm ernannt. Ab 1880 war
ʿAbduh
Herausgeber der ägyptischen Staatszeitung, in der er die Gedanken der liberalen
Gruppen vertrat. Als Folge der ʿUrābī-Revolte (1879-1881) wurde er zwischenzeitlich aus
Ägypten verbannt und schloss sich al-Afġānī in Paris an. 1889 erhielt ʿAbduh die Erlaubnis zur
Rückkehr nach Ägypten. Zehn Jahre später übernahm er den Posten des
Staatsmuftī, das höchste religiöse Amt in Ägypten, welches er bis zu seinem Tod
1905 ausübte. Bekannt ist ʿAbduh
vor allem durch drei Ideen: die islamische Reformpolitik, die Wiederbelebung
der arabischen Sprache und seiner Forderung auf Anerkennung der Rechte des
Volkes durch die Herrscher (vgl. Schacht 1991: 418ff.).
[17] Eine ausführlichere Darstellung aller Richtungen
findet sich bei Murtaza 2011: 28-33.
[18] Ibn Taimiyya (1263-1328) verbrachte den Großteil
seines Lebens in Damaskus und war Anhänger der hanbalitischen Rechtsschule,
ohne die anderen Rechtsschulen komplett abzulehnen. Sein Ziel war vielmehr die
Integration und Harmonisierung von Tradition, Vernunft und freiem Willen in
einer Doktrin des konservativen Reformismus. In diesem Sinne hält er auch den iǧtihād unter Beachtung
bestimmter Regeln für zulässig, solange er sich an Sunna und Koran orientiert
(vgl. Laoust 2003).
[19] Zit. nach Karin el Minawi 2011.
[20] Eine ausführliche Übersicht über die verschiedenen
Parteien mit ihren Kandidaten und Chancen bietet folgender Länderbericht der
Konrad Adenauer Stiftung: Gemeinder, Sahra/Jacobs, Andreas/Trepesch, Elisabeth:
Parteienmonitor Ägypten 2011, www.kas.de,
20.10.2011.
[21] Siehe die BBC News Middle East vom 14.06.2012 „Egypt supreme court
calls for parliament to be dissolved“ (http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-18439530)
(19.02.2013).
[22] Im Hinblick auf die genannten Prozentzahlen ist zu
berücksichtigen, dass in beiden Ländern lange Zeit nur „pro forma“ gewählt
wurde und das Ergebnis – ein Sieg des amtierenden Präsidenten – im Voraus
feststand, was zu einer verbreiteten Wahlmüdigkeit führte. 49% Wahlbeteiligung
mögen also auf den ersten Blick nicht wirklich viel erscheinen, sie zeigen
jedoch, dass auch jahrelange politische Unterdrückung den Wunsch der
Bevölkerung nach Äußerung ihrer politischen Meinung nicht gänzlich zum
Erlöschen gebracht hat.
[23] Dass diese Hoffnung allerdings trügerisch sein könnte,
mutmaßt die Schriftstellerin Mansura Eseddin in einem Interview mit der
österreichischen Zeitung Der Standard (Essedin
2012).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen