Freitag, 10. Mai 2013

Frauenrecht im Islam: Beispiel Marokko



Im Februar 2004 verabschiedete das marokkanische Parlament das reformierte Familienstandrecht (Moudawana). Wesentlicher Inhalt der Reformen war es insbesondere, die Lage der Frau hinsichtlich mehr Gleichberechtigung zu verbessern. Das neue Recht wurde im Westen als vorbildlich gelobt und gilt seither als das Ideal für alle arabischen Staaten. Worauf geht diese anscheinend positive Veränderung des marokkanischen Familienrechts zurück? Wie sehen neue Artikel zur Stellung der Frau aus und wie verläuft ihre Umsetzung in die Praxis? Profitieren wirklich alle Frauen gleichermaßen von den Neuregelungen?
Historischer Hintergrund
Direkt nach Erlangung der Unabhängigkeit von Frankreich 1957 beauftragte der marokkanische König eine rein männliche Kommission mit der Ausarbeitung eines auf der Scharia beruhenden Personenstandrechts. Innerhalb kurzer Zeit  formulierte das Gremium entsprechende Paragrafen und die Urfassung der Moudawana trat 1958 in Kraft. Diese sah keinerlei Gleichberechtigung der Frau innerhalb der Familie vor, sondern deklarierte sie zum „Mündel“ des Ehemannes, der kein Erwerbsleben zusteht. So galt gemäß Paragraf 1 der Ehemann als Chef des Hauses, alleiniger Inhaber von Entscheidungsgewalt und Ernährer der Familie, während die Ehefrau der Gehorsamspflicht unterlag.
Die gesamte Entwicklung von Marokko in den nächsten dreißig Jahren zeigte jedoch im Hinblick auf die Rolle der Frau in Gesellschafts- und Wirtschaftsleben eine Entwicklung, welche der konservativen Fassung der Moudawana insbesondere im städtischen Bereich gänzlich widersprach. So sind in Marokko 30% aller Frauen berufstätig, 20% sind Haushaltsvorstände und 40% besuchen die Oberschule. Mit Beginn der 90erJahre führte diese Diskrepanz dazu, dass sich immer Frauen und Frauenvereinigungen für eine Reform der Moudawana aussprachen. Nach einer Unterschriftensammlung 1992 und unter Befürwortung des Herrschers kam es schließlich zu einer ersten kleinen Reform des Personenstandrechts 1993.
Die Reformen 2003/2003
Trotz wiederholter Demonstrationen und Forderungen nach weiteren Veränderungen der Moudawana durch Frauenvereinigungen ruhte diese seit 1993. Mit dem Tod des alten Herrschers und der Inthronisierung von Muhammad VI 1999, kam erneut Bewegung in das Reformprojekt. Der König selbst setzte sich für eine Modernisierung des Familienrechts unter Beachtung des Islam ein und berief hierfür am 05.März2001 eine gemischte Kommission an der auch Frauen beteiligt waren. Die wohl bedeutendste Änderung für die Stellung der Frau ist in Artikel 4 situiert: Durch die Erklärung der gemeinsamen Verantwortung von Mann und Frau für die Familie wird die Würde der Frau garantiert. Doch das neue Familienstandrecht bleibt nicht  hier stehen, vielmehr befassen sich weitere Artikel mit zentralen Problempunkten wie Polygamie, Sorgerecht, Scheidung und Eheschließung. Was für Änderungen gibt es hier?
Bis 2004 benötigten Frauen einen männlichen Verwandten bzw. einen Vertreter, wali, um zu heiraten, auch lag das Mindestheiratsalter bei Mädchen lediglich bei 15 Jahren. Artikel 19 des neuen Gesetztes legt nun das Heiratsalter von Jungen und Mädchen auf 18 fest, während Artikel 25 festlegt, dass Frauen nun aus freiem Willen heiraten dürfen. Wichtige Neuerungen finden sich auch in den Artikeln 40 bis 46: zwar stellen sie keine endgültige Aufgabe der Polygamie dar, doch diese wird starken Beschränkungen unterworfen. So muss der Mann vor Gericht beweisen, dass  er den Unterhalt für zwei Familien leisten kann und triftige Gründe für die Zweitehe vorlegen, außerdem hat die erste Frau ein Recht auf Information über den Wunsch ihres Mannes und kann die Scheidung einreichen, wenn sie gegen die Zweitehe ist.
Besondere Neuheiten bieten auch Sorge- und Ehescheidungsrecht. Bis 2004 konnten Frauen nur äußerst selten und mit größten Nachteilen für sich selbst die Scheidung erwirken, während Männer die Möglichkeit hatten, ihre Frauen sogar in deren Abwesenheit allein durch Aussprechen der islamischen Scheidungsformel zu verstoßen. Die neue Moudawana lässt Scheidungen nur noch vor Gericht  und in Anwesenheit der Partner vor, auch wird im Vorfeld immer ein Versöhnungsversuch vom Richter unternommen. Zudem legt Paragraf 87 fest, dass im Vorfeld der Trennung die finanzielle Lage des Paares überprüft wird, so dass hier eine gerechte Aufteilung des innerhalb der Ehe erworbenen Eigentums per Gericht möglich ist. Hinsichtlich des Sorgerechts für die Kinder greift die neue Moudwana auf das Internationale Abkommen über Rechte des Kindes zurück. Bis zum 15ten Lebensjahr dürfen Kinder nach der Scheidung mit ihrer Mutter das gemeinsame Haus des Ehepaares bewohnen, danach haben sie die frei Wahl, bei welchem Elternteil sie leben wollen.
Insgesamt also ein progressives Familienrecht, dass Frauen und Kindern mehr Rechte einräumt. Dennoch stellt sich die Frage, wie wirksam das neue Gesetz ist und wie die Bürger selbst es bewerten. Nach einer Umfrage 2010 unterstützen 85% der weiblichen Bevölkerung die Neuheiten, während  nur 59% der Männer vom positiven Charakter der Reformen überzeugt sind – dies gilt zumindest für die junge städtische Bevölkerung.
Akzeptanz und Umsetzung der Reform
Wie Sprecherinnen der Frauenbewegungen und Anwältinnen berichten, gibt es seit 2004 weniger Polygamie und die Zahl der einvernehmlichen Scheidungen hat zugenommen. Allerdings räumen diese Gruppen auch ein, dass es Schlupflöcher im Gesetzestexts gibt und Korruption/ Bestechlichkeit von Richtern für Frauen noch immer ein Problem sein kann.  Entsprechend herrscht auch 2009 noch Skepsis unter den Frauenvereinigungen bezüglich der praktischen Umsetzung der Moudawana 2004. Dies gilt insbesondere im Bezug auf die Anwendung in ländlichen Regionen, in denen sich die Bedürfnisse der weiblichen Bevölkerung klar von den Städterinnen unterscheiden.  Kernproblem hier ist die geringe Bildung von Frauen und Mädchen auf dem Land: die Analphabetenquote liegt bei ca. 87% und nur 1/3 aller Mädchen besuchen die Grundschule. Entsprechend schwierig ist es, der ländlichen Bevölkerung ihre neuen Rechte nahezubringen und verständlich zu machen. Nur durch den Einsatz aller Medien insbesondere von Fernsehen und Radio kann hier Informationen die Betroffenen erreichen, ihre Einforderung hängt jedoch davon ab, inwieweit geistige Haltung und Mentalität der Menschen bereit für die Reformen sind. In diesem Sinne äußern sich Stimmen, welche die neue Moudawana nur als Hilfe für Elitefrauen ansehen, die zugleich den Westen beeindrucken soll. Entsprechend mehren sich Forderungen nach einer stärkeren Konzentration auf die Senkung der Analphabetenquote sowie der Arbeitslosigkeit.
Neben der generellen Problematik der praktischen Umsetzung  der neuen Moudawana auf dem Land lassen sich auch einige Folgen für die Städterinnen aufzeigen. So zeigen Statistiken wie Umfragen, dass sich viele Männer aufgrund der neuen Regelungen im Bereich Scheidung verunsichert fühlen und daher Angst vor der Heirat haben. So erklärt ein Student des Ingenieurswesens, dass Ehemänner befürchten, bei einer Scheidung die Hälfte ihres Besitzes abgeben zu müssen – ein Beispiel für ungenaue Kenntnis des entsprechenden Artikels 49. Darüber hinaus bewerten einige Männer das Recht der Frau die Scheidung einzureichen als Widerspruch zum Islam an, ihrer Ansicht nach soll nur der Ehemann das aktive Recht zur Scheidung haben. Hier zeigt sich eine klare Einteilung in geschlechtsspezifische Rollen: Die Frau ist für Kinder und Haushalt zuständig, z.B. Kochen, die Fähigkeit dafür wird dem Mann abgesprochen, dessen Aufgabe die finanzielle Versorgung der Familie durch seine Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz ist. Frauen sehen zwar keinen Konflikt zwischen dem Islam und Scheidung, dafür weisen sie jedoch auf ein kulturelles Problem hin: die mangelnde Akzeptanz bzw. die Diskriminierung von geschiedenen Frauen innerhalb der marokkanischen Gesellschaft. So beschreibt der Roman „Cérémonie“ der marokkanischen Autorin Yasmine Chami-Kettani von 1999 anschaulich, wie eine geschiedene, 35jährige Frau durch  nach der Rückkehr in ihre Familie von dieser diskriminiert wird: Ihre Schande und Unvermögen in der Ehe werden durch ein mädchenhaft rosafarbenes Kleid – Symbol für ihren Status als unmündiges Kind – verdeutlicht, welches die Mutter für sie zur Hochzeitsfeier ihres Bruders ausgewählt hat.
Betrifft die Scheidung eine Frau aus der städtischen Unterschicht, gesellt sich zu dem kulturellen Faktor die Unsicherheit über die finanzielle Versorgung insbesondere in Bezug auf die Kinder. Interviews zufolge sind Schwierigkeiten in der Ehe gerade in der ärmeren Bevölkerung typisch, da die Ehen oft früh und trotz des neuen Gesetzes durch Vermittlung der Eltern geschlossen werden. Frauen der Unterschicht sehen die Heirat im Alter zwischen 18 und 20 jedoch oft als ihre beste Chance an, insbesondere wenn sie keine oder wenig Bildung besitzen. Hier überwiegt die Angst später aufgrund mangelnder Mitgift keinen Partner zu finden und sich dem Zwang zur Tätigkeit als Dienstbote oder Zimmermädchen ausgesetzt zu sehen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.  Dieselbe Furcht lässt diese Marokkanerinnen auch von Scheidungen absehen, selbst wenn die Ehegatten sich auseinander gelebt haben. Sie fragen sich, wie sie allein die gesamte Verantwortung für den Unterhalt ihrer Familie tragen sollen, für neue Kleider der Kinder, für Schuhe und für ihre Ausbildung. Zwar sieht die neue Moudawana vor, dass der Ehemann nach der Scheidung den Unterhalt für die Kinder zahlt und seine Frau mit diesen im Haus wohnen bleiben kann, doch gibt erweist sich das Gesetz hier als lückenhaft. Was passiert beispielsweise, wenn der Ehemann keine feste Arbeit hat oder arbeitslos ist/wird, die Zahlungen verweigert oder aber der Unterhalt nicht für eine angemessene Versorgung ausreicht? Es gibt in diesem Bereich Versuche seitens des marokkanischen Staates eine Art Hilfsfonds einzurichten, der Frauen in Notsituationen unterstützen soll, dieses Projekt wird von den verschiedenen Frauenvereinigungen in Marokko gefördert, bedarf aber noch Zeit zur Reife.
Fazit
Im Wesentlichen lässt sich feststellen, dass die neue Moudawana den marokkanischen Frauen mehr Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung gibt und sie den Männern gleichstellt. Auch nach jetzt achtjähriger Gültigkeit des Gesetzes bleibt jedoch mangelnde Kenntnis über den genauen Inhalt einzelner Artikel ein Kernproblem, welches beide Geschlechter beeinflusst. Die Sprecherinnen der Frauenvereinigungen sowie Anwältinnen sehen zwar deutliche Fortschritte insbesondere für die weibliche Stadtbevölkerung, fordern jedoch gleichzeitig, dass weitere Mittel zur Bekämpfung der Analphabetenquote und der Arbeitslosigkeit zur Verfügung gestellt werden. Hinzu kommt nach dem Wahlsieg der islamistischen Gruppierungen in den Wahlen 2011 eine vermehrte Unsicherheit, inwieweit die neue Regierung die Reformen weiter vorantreiben und zu ihrer praktischen Realisierung mit beitragen wird, da die Hauptgegner der Reform 2003/04 aus diesen Reihen kamen.
Unabhängig von der weiteren Etablierung der Moudawana in Marokko gilt im Hinblick auf die gesamte arabische Welt, dass die marokkanische Führung ein positives Signal gesetzt und verdeutlicht hat, dass es Möglichkeiten gibt, die Scharia der Moderne angemessen auszulegen ohne damit gegen islamische Normen zu verstoßen. Dies kann Vorbildfunktion für die gerade neu entstehenden Regime in Tunesien und Ägypten sowie im ganzen Nahen Osten haben sowohl für eine besser Stellung der Frauen im Nahen Osten als auch für die Menschenrechte insgesamt.

1 Kommentar:

  1. Sehr geehrte Frau Dr. Schüller, könnten Sie zu diesem Thema die Quellen hinzufügen?

    Mit besten Grüßen Diana Krenke

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