Im Februar 2004
verabschiedete das marokkanische Parlament das reformierte Familienstandrecht
(Moudawana). Wesentlicher Inhalt der Reformen war es insbesondere, die Lage der
Frau hinsichtlich mehr Gleichberechtigung zu verbessern. Das neue Recht wurde
im Westen als vorbildlich gelobt und gilt seither als das Ideal für alle
arabischen Staaten. Worauf geht diese anscheinend positive Veränderung des
marokkanischen Familienrechts zurück? Wie sehen neue Artikel zur Stellung der
Frau aus und wie verläuft ihre Umsetzung in die Praxis? Profitieren wirklich
alle Frauen gleichermaßen von den Neuregelungen?
Historischer
Hintergrund
Direkt nach
Erlangung der Unabhängigkeit von Frankreich 1957 beauftragte der marokkanische
König eine rein männliche Kommission mit der Ausarbeitung eines auf der Scharia
beruhenden Personenstandrechts. Innerhalb kurzer Zeit formulierte das Gremium entsprechende
Paragrafen und die Urfassung der Moudawana trat 1958 in Kraft. Diese sah
keinerlei Gleichberechtigung der Frau innerhalb der Familie vor, sondern
deklarierte sie zum „Mündel“ des Ehemannes, der kein Erwerbsleben zusteht. So
galt gemäß Paragraf 1 der Ehemann als Chef des Hauses, alleiniger Inhaber von
Entscheidungsgewalt und Ernährer der Familie, während die Ehefrau der Gehorsamspflicht
unterlag.
Die gesamte
Entwicklung von Marokko in den nächsten dreißig Jahren zeigte jedoch im
Hinblick auf die Rolle der Frau in Gesellschafts- und Wirtschaftsleben eine
Entwicklung, welche der konservativen Fassung der Moudawana insbesondere im
städtischen Bereich gänzlich widersprach. So sind in Marokko 30% aller Frauen
berufstätig, 20% sind Haushaltsvorstände und 40% besuchen die Oberschule. Mit
Beginn der 90erJahre führte diese Diskrepanz dazu, dass sich immer Frauen und
Frauenvereinigungen für eine Reform der Moudawana aussprachen. Nach einer
Unterschriftensammlung 1992 und unter Befürwortung des Herrschers kam es
schließlich zu einer ersten kleinen Reform des Personenstandrechts 1993.
Die Reformen
2003/2003
Trotz wiederholter
Demonstrationen und Forderungen nach weiteren Veränderungen der Moudawana durch
Frauenvereinigungen ruhte diese seit 1993. Mit dem Tod des alten Herrschers und
der Inthronisierung von Muhammad VI 1999, kam erneut Bewegung in das
Reformprojekt. Der König selbst setzte sich für eine Modernisierung des
Familienrechts unter Beachtung des Islam ein und berief hierfür am 05.März2001
eine gemischte Kommission an der auch Frauen beteiligt waren. Die wohl
bedeutendste Änderung für die Stellung der Frau ist in Artikel 4 situiert:
Durch die Erklärung der gemeinsamen Verantwortung von Mann und Frau für die
Familie wird die Würde der Frau garantiert. Doch das neue Familienstandrecht
bleibt nicht hier stehen, vielmehr
befassen sich weitere Artikel mit zentralen Problempunkten wie Polygamie,
Sorgerecht, Scheidung und Eheschließung. Was für Änderungen gibt es hier?
Bis 2004
benötigten Frauen einen männlichen Verwandten bzw. einen Vertreter, wali, um zu
heiraten, auch lag das Mindestheiratsalter bei Mädchen lediglich bei 15 Jahren.
Artikel 19 des neuen Gesetztes legt nun das Heiratsalter von Jungen und Mädchen
auf 18 fest, während Artikel 25 festlegt, dass Frauen nun aus freiem Willen
heiraten dürfen. Wichtige Neuerungen finden sich auch in den Artikeln 40 bis
46: zwar stellen sie keine endgültige Aufgabe der Polygamie dar, doch diese
wird starken Beschränkungen unterworfen. So muss der Mann vor Gericht beweisen,
dass er den Unterhalt für zwei Familien
leisten kann und triftige Gründe für die Zweitehe vorlegen, außerdem hat die
erste Frau ein Recht auf Information über den Wunsch ihres Mannes und kann die
Scheidung einreichen, wenn sie gegen die Zweitehe ist.
Besondere
Neuheiten bieten auch Sorge- und Ehescheidungsrecht. Bis 2004 konnten Frauen
nur äußerst selten und mit größten Nachteilen für sich selbst die Scheidung
erwirken, während Männer die Möglichkeit hatten, ihre Frauen sogar in deren
Abwesenheit allein durch Aussprechen der islamischen Scheidungsformel zu
verstoßen. Die neue Moudawana lässt Scheidungen nur noch vor Gericht und in Anwesenheit der Partner vor, auch wird
im Vorfeld immer ein Versöhnungsversuch vom Richter unternommen. Zudem legt
Paragraf 87 fest, dass im Vorfeld der Trennung die finanzielle Lage des Paares
überprüft wird, so dass hier eine gerechte Aufteilung des innerhalb der Ehe
erworbenen Eigentums per Gericht möglich ist. Hinsichtlich des Sorgerechts für
die Kinder greift die neue Moudwana auf das Internationale Abkommen über Rechte
des Kindes zurück. Bis zum 15ten Lebensjahr dürfen Kinder nach der Scheidung
mit ihrer Mutter das gemeinsame Haus des Ehepaares bewohnen, danach haben sie
die frei Wahl, bei welchem Elternteil sie leben wollen.
Insgesamt also
ein progressives Familienrecht, dass Frauen und Kindern mehr Rechte einräumt.
Dennoch stellt sich die Frage, wie wirksam das neue Gesetz ist und wie die
Bürger selbst es bewerten. Nach einer Umfrage 2010 unterstützen 85% der
weiblichen Bevölkerung die Neuheiten, während
nur 59% der Männer vom positiven Charakter der Reformen überzeugt sind –
dies gilt zumindest für die junge städtische Bevölkerung.
Akzeptanz und
Umsetzung der Reform
Wie
Sprecherinnen der Frauenbewegungen und Anwältinnen berichten, gibt es seit 2004
weniger Polygamie und die Zahl der einvernehmlichen Scheidungen hat zugenommen.
Allerdings räumen diese Gruppen auch ein, dass es Schlupflöcher im
Gesetzestexts gibt und Korruption/ Bestechlichkeit von Richtern für Frauen noch
immer ein Problem sein kann.
Entsprechend herrscht auch 2009 noch Skepsis unter den
Frauenvereinigungen bezüglich der praktischen Umsetzung der Moudawana 2004.
Dies gilt insbesondere im Bezug auf die Anwendung in ländlichen Regionen, in
denen sich die Bedürfnisse der weiblichen Bevölkerung klar von den Städterinnen
unterscheiden. Kernproblem hier ist die
geringe Bildung von Frauen und Mädchen auf dem Land: die Analphabetenquote
liegt bei ca. 87% und nur 1/3 aller Mädchen besuchen die Grundschule.
Entsprechend schwierig ist es, der ländlichen Bevölkerung ihre neuen Rechte
nahezubringen und verständlich zu machen. Nur durch den Einsatz aller Medien
insbesondere von Fernsehen und Radio kann hier Informationen die Betroffenen
erreichen, ihre Einforderung hängt jedoch davon ab, inwieweit geistige Haltung
und Mentalität der Menschen bereit für die Reformen sind. In diesem Sinne
äußern sich Stimmen, welche die neue Moudawana nur als Hilfe für Elitefrauen
ansehen, die zugleich den Westen beeindrucken soll. Entsprechend mehren sich
Forderungen nach einer stärkeren Konzentration auf die Senkung der Analphabetenquote
sowie der Arbeitslosigkeit.
Neben der
generellen Problematik der praktischen Umsetzung der neuen Moudawana auf dem Land lassen sich
auch einige Folgen für die Städterinnen aufzeigen. So zeigen Statistiken wie
Umfragen, dass sich viele Männer aufgrund der neuen Regelungen im Bereich
Scheidung verunsichert fühlen und daher Angst vor der Heirat haben. So erklärt
ein Student des Ingenieurswesens, dass Ehemänner befürchten, bei einer
Scheidung die Hälfte ihres Besitzes abgeben zu müssen – ein Beispiel für
ungenaue Kenntnis des entsprechenden Artikels 49. Darüber hinaus bewerten
einige Männer das Recht der Frau die Scheidung einzureichen als Widerspruch zum
Islam an, ihrer Ansicht nach soll nur der Ehemann das aktive Recht zur
Scheidung haben. Hier zeigt sich eine klare Einteilung in
geschlechtsspezifische Rollen: Die Frau ist für Kinder und Haushalt zuständig,
z.B. Kochen, die Fähigkeit dafür wird dem Mann abgesprochen, dessen Aufgabe die
finanzielle Versorgung der Familie durch seine Leistungsfähigkeit am
Arbeitsplatz ist. Frauen sehen zwar keinen Konflikt zwischen dem Islam und
Scheidung, dafür weisen sie jedoch auf ein kulturelles Problem hin: die
mangelnde Akzeptanz bzw. die Diskriminierung von geschiedenen Frauen innerhalb
der marokkanischen Gesellschaft. So beschreibt der Roman „Cérémonie“ der
marokkanischen Autorin Yasmine Chami-Kettani von 1999 anschaulich, wie eine
geschiedene, 35jährige Frau durch nach
der Rückkehr in ihre Familie von dieser diskriminiert wird: Ihre Schande und
Unvermögen in der Ehe werden durch ein mädchenhaft rosafarbenes Kleid – Symbol
für ihren Status als unmündiges Kind – verdeutlicht, welches die Mutter für sie
zur Hochzeitsfeier ihres Bruders ausgewählt hat.
Betrifft die
Scheidung eine Frau aus der städtischen Unterschicht, gesellt sich zu dem
kulturellen Faktor die Unsicherheit über die finanzielle Versorgung
insbesondere in Bezug auf die Kinder. Interviews zufolge sind Schwierigkeiten
in der Ehe gerade in der ärmeren Bevölkerung typisch, da die Ehen oft früh und
trotz des neuen Gesetzes durch Vermittlung der Eltern geschlossen werden.
Frauen der Unterschicht sehen die Heirat im Alter zwischen 18 und 20 jedoch oft
als ihre beste Chance an, insbesondere wenn sie keine oder wenig Bildung
besitzen. Hier überwiegt die Angst später aufgrund mangelnder Mitgift keinen
Partner zu finden und sich dem Zwang zur Tätigkeit als Dienstbote oder
Zimmermädchen ausgesetzt zu sehen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieselbe Furcht lässt diese Marokkanerinnen
auch von Scheidungen absehen, selbst wenn die Ehegatten sich auseinander gelebt
haben. Sie fragen sich, wie sie allein die gesamte Verantwortung für den
Unterhalt ihrer Familie tragen sollen, für neue Kleider der Kinder, für Schuhe
und für ihre Ausbildung. Zwar sieht die neue Moudawana vor, dass der Ehemann
nach der Scheidung den Unterhalt für die Kinder zahlt und seine Frau mit diesen
im Haus wohnen bleiben kann, doch gibt erweist sich das Gesetz hier als
lückenhaft. Was passiert beispielsweise, wenn der Ehemann keine feste Arbeit
hat oder arbeitslos ist/wird, die Zahlungen verweigert oder aber der Unterhalt
nicht für eine angemessene Versorgung ausreicht? Es gibt in diesem Bereich
Versuche seitens des marokkanischen Staates eine Art Hilfsfonds einzurichten,
der Frauen in Notsituationen unterstützen soll, dieses Projekt wird von den
verschiedenen Frauenvereinigungen in Marokko gefördert, bedarf aber noch Zeit
zur Reife.
Fazit
Im Wesentlichen
lässt sich feststellen, dass die neue Moudawana den marokkanischen Frauen mehr
Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung gibt und sie den Männern
gleichstellt. Auch nach jetzt achtjähriger Gültigkeit des Gesetzes bleibt
jedoch mangelnde Kenntnis über den genauen Inhalt einzelner Artikel ein
Kernproblem, welches beide Geschlechter beeinflusst. Die Sprecherinnen der Frauenvereinigungen
sowie Anwältinnen sehen zwar deutliche Fortschritte insbesondere für die
weibliche Stadtbevölkerung, fordern jedoch gleichzeitig, dass weitere Mittel
zur Bekämpfung der Analphabetenquote und der Arbeitslosigkeit zur Verfügung
gestellt werden. Hinzu kommt nach dem Wahlsieg der islamistischen Gruppierungen
in den Wahlen 2011 eine vermehrte Unsicherheit, inwieweit die neue Regierung
die Reformen weiter vorantreiben und zu ihrer praktischen Realisierung mit
beitragen wird, da die Hauptgegner der Reform 2003/04 aus diesen Reihen kamen.
Unabhängig von
der weiteren Etablierung der Moudawana in Marokko gilt im Hinblick auf die
gesamte arabische Welt, dass die marokkanische Führung ein positives Signal
gesetzt und verdeutlicht hat, dass es Möglichkeiten gibt, die Scharia der
Moderne angemessen auszulegen ohne damit gegen islamische Normen zu verstoßen.
Dies kann Vorbildfunktion für die gerade neu entstehenden Regime in Tunesien
und Ägypten sowie im ganzen Nahen Osten haben sowohl für eine besser Stellung
der Frauen im Nahen Osten als auch für die Menschenrechte insgesamt.
Sehr geehrte Frau Dr. Schüller, könnten Sie zu diesem Thema die Quellen hinzufügen?
AntwortenLöschenMit besten Grüßen Diana Krenke